117. Verhandlungstag, 3.6.2014 Verhängnisvolle Neugier
In Köln soll der NSU zwei Sprengstoffanschläge verübt haben: Das sogenannte Nagelbombenattentat in der Keupstraße im Jahr 2004 und drei Jahre zuvor in der Probsteigasse. Der Sprengstoff soll von Uwe Böhnhardt oder von Uwe Mundlos bewusst platziert worden sein. Und dann geschah erst einmal lange gar nichts.
03. Juni
Dienstag, 03. Juni 2014
Eine rot lackierte Keksdose mit weißen Sternen darauf. Ein Kunde hat sie vor Wochen mitgebracht und im Laden liegenlassen. Er wollte eigentlich nur Geld holen gehen und sie dann mit den anderen Waren, die er sich ausgesucht hatte, wieder mitnehmen. Das Weihnachtsfest liegt schon seit Wochen zurück. Und die Dose lagert immer noch im Regal im Hinterzimmer des Lebensmittelgeschäfts.
Eine Christstollen-Dose dieses Modells wurde im Lebensmittelgeschäft in der Kölner Probsteigasse abgegeben.
Einfach wegschmeißen? Oder sollte man nicht vielleicht doch mal den Deckel anheben und nachsehen, was sich darin befindet? Wer wäre da nicht neugierig ...? Doch genau diese Neugier hat der Täter offenbar genauestens kalkuliert. Der Tochter des iranisch-stämmigen Inhabers eines Lebensmittelgeschäfts aus Köln wurde dieser Impuls zum Verhängnis. Denn in der Dose war eben kein Weihnachtsgebäck. Sondern eine Bombe.
Große Zerstörung
Die Polizei trifft am 19. Januar 2001 um 7.30 Uhr in der Kölner Probsteigasse ein. Eine kleine Einbahnstraße, die nicht so leicht zu finden ist. Es ist noch dunkel. Die Beamten sehen schon von außen den verbogenen Metall-Rollladen. Je weiter sie in das Geschäft vordringen, desto mehr Scherben und Splitter liegen vor ihnen. Innerhalb von wenigen Augenblicken ist ihnen klar, dass es sich hier im einen Sprengstoff-Attentat gehandelt haben muss.
Ein Zufallsopfer aus dem iranischen Umfeld
Für das 19-jährige Opfer ändert sich mit dem Anschlag ihr gesamtes Leben. Bisher besucht sie in Köln das Gymnasium. Im Frühjahr will sie ihr Abitur schreiben. Eine junge Frau voller Energie, Lebensfreude und Tatendrang. Im Lebensmittelgeschäft ihres Vaters hilft sie sporadisch aus. Schon einmal wollte sie einen Blick auf den Inhalt der Weihnachtsdose riskieren. Ihre Eltern verbieten es. Fest steht: An jenem Morgen im Winter vor 13 Jahren öffnet sie den Deckel, sieht eine Glasflasche und schließt die Dose augenblicklich wieder. Zu spät. Der Zünder ist entsichert. Die Schwarzpulverladung geht in die Luft. Vor der Abiturientin liegen Monate im Krankenhaus. Die Schülerin erleidet im Gesicht und an ihrer rechten Hand Verbrennungen zweiten Grades. Die herumfliegenden Splitter verursachen Dutzende Schnittverletzungen am ganzen Körper. Die 19-Jährige muss wochenlang auf der Intensivstation liegen. Ihr Gesicht wird von plastischen Chirurgen wiederhergestellt.
Damals besucht ein Kriminalbeamter die junge Frau im Krankenhaus. "Sie hat sehr langsam und leise gesprochen und war offensichtlich auch nach der langen Zeit immer noch sehr geschockt. Sie sah schon ziemlich schlimm aus." So beschrieb er ihren Zustand heute vor Gericht.
Opfer sagt als Zeugin aus
Auch in den nächsten Verhandlungstagen wird sich die Strafkammer des Münchner Oberlandesgericht mit dem Kölner Sprengstoffanschlag beschäftigen. Morgen soll das Opfer als Zeugin vernommen werden. Der Tatkomplex "Probsteigasse" ist symptomatisch für viele Fragen, die während des NSU-Prozesses zwar immer wieder gestellt, aber bislang unbeantwortet blieben. Warum wurde nicht im rechtsextremen Umfeld ermittelt, obwohl die Opfer einen Immigrationshintergrund hatten? Warum hat man diesen Anschlag nicht bundesweit mit anderen Sprengstoff-Attentaten verglichen? Warum hat sich der NSU, dem die Tat von der Bundesanwaltschaft zugeschrieben wurde, ausgerechnet die iranisch stämmige Familie als Opfer ausgesucht? Und nicht zuletzt: Inwiefern kann man Beate Zschäpe, der Hauptangeklagten dieses Prozesses, eine Mittäterschaft an diesem Anschlag nachweisen?