NSU-Prozess


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118. Verhandlungstag, 4.6.2014 "Jetzt erst recht!"

Auf sie wurde ein Mordanschlag verübt. Sie hat ihn überlebt und sich wieder ins Leben zurückgekämpft. Damals war sie 19 Jahre alt. Sie nahm hin, was die Behörden ihr 2001 erklärten. Heute weiß sie, dass damals längst nicht alles ermittelt wurde. Mira Barthelmann, BR

Von: Mira Barthelmann

Stand: 04.06.2014 | Archiv

Mira Barthelmann | Bild: BR

04 Juni

Mittwoch, 04. Juni 2014

Als im November 2011 Ausschnitte des sogenannten Bekennervideos des NSU veröffentlicht werden, erleidet sie einen Schock. Das Attentat auf die damals 19-Jährige liegt über zehn Jahre zurück. Die Polizei hatte ihr nach Abschluss der Ermittlungen erklärt, dass sie ein Zufallsopfer gewesen sei, dass die Tat keinen rechtsextremistischen Hintergrund habe und, dass kein Täter ermittelt wurde. Längst hat die junge Frau ihr Leben wieder im Griff. Sie hat Medizin studiert und ist Fachärztin für Chirurgie. Sie hat für ihr Studium den Ort des Attentats, verlassen. Um Abstand zu gewinnen.

Kein Zufallsopfer

Was ihr an jenem Morgen des 19. Januar 2001 widerfahren ist, war kein Zufall. Heute ist sich die Bundesanwaltschaft sicher, dass der Ort des Anschlages bewusst gewählt war. Die Täter, entweder Uwe Mundlos oder Uwe Böhnhardt, hatten sich das Lebensmittelgeschäft eines Mannes, der aus dem Iran kam, ausgesucht, um gezielt gewalttätig gegen Menschen mit Migrationshintergrund vorzugehen.

Ein ganz kleiner Spalt

In einer Christstollen-Dose dieses Modells befand sich die Sprengladung.

"Das ist aber ein komisches Weihnachtsgeschenk ...!", hat sich die heute 32-jährige Frau gedacht, als sie in die Metallbox lugte. Sie öffnete sie nur einen kleinen Spalt und sah eine blaue Camping-Gasflasche. Dann schloss sie die Dose schnell wieder, ging um den großen Schreibtisch herum, und beugte sich hinunter zu einer Schublade. Diese Bewegung rettete ihr wahrscheinlich das Leben. Denn im selben Moment explodiert die Sprengladung. An das, was folgte, erinnert sich die damalige Abiturientin bis heute ins kleinste Detail: "Es gab einen lauten Knall, dann ein helles Licht und mir war schon in diesem Moment klar, dass es sich um eine Explosion gehandelt haben muss. Ich lag auf dem Boden. Ich hatte Schmerzen. Ich konnte nichts sehen. Nicht atmen. Nicht schreien. Nicht reden."

Flamme verklebt Augenlieder

Die Schülerin kommt ins Krankenhaus. Noch am selben Tag wird sie mit einem Hubschrauber in eine Kölner Spezialklinik für Schwerstverbrannte verlegt. "Ich habe gespürt, dass meine Augen zugeschmolzen sind. Dass meine kompletten Haare geschmolzen sind." Sie wird für mehrere Wochen ins künstliche Koma versetzt und beatmet. Danach muss sie erst wieder laufen lernen und einen Schmerzmittelentzug mit starken Krämpfen durchleiden. Immer an ihrer Seite: ihre Mutter und ihr Vater. Es kommen viele Freunde ins Krankenhaus. Auch ihre Lehrer. Sie sagen ihre volle Unterstützung zu. Noch im selben Jahr darf die Schwerstverletzte ihr Abitur nachschreiben. Sie konzentriert sich auf diese Aufgabe. Das hilft ihr. Immer wieder werden ihre Eltern von der Polizei befragt. Davon bekommt sie nichts mit. Wer könnte der Täter sein? Und vor allem: Was ist sein Motiv? Die Familie rätselt oft und immer wieder darüber. Im eigenen Kreis erwägen auch einen fremdenfeindlichen Hintergrund. Als die Polizei aber von Zufall spricht, verwerfen sie den Gedanken.

"Ich werde kämpfen"

Zehn Jahre später taucht dann das sogenannte "Paulchen-Panther-Video" des NSU auf. Die heute 32-Jährige ist als kleines Kind mit ihrer Familie nach Deutschland gekommen. Sie hat hier die Schule besucht, sich einen deutschen Freundeskreis aufgebaut, ihr Abitur bestanden und ihr Studium absolviert. Das sogenannte Bekennervideo veranlasste sie im ersten Schockmoment zu der Frage: "Was soll ich denn noch hier?" Sie hatte erwogen, das Land zu verlassen. Heute erklärt sie dann mit fester Stimmer vor der Strafkammer des Münchner Oberlandesgerichts: "Ich habe mir hier alles aufgebaut. Ich werde kämpfen. So leicht lasse ich mich nicht aus Deutschland rausjagen." Von der Besuchertribüne gibt es Applaus. Das kommt selten vor und es ist nicht erlaubt. Doch auch wenn es sich bei einem Gerichtssaal keinesfalls um ein Theater handelt, so waren die Ausführungen des Opfers heute trotzdem eine starke Vorstellung, die bei vielen Prozessbeteiligten noch lange nachwirken wird.


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