Tageszusammenfassung, 307. Tag, 1.9.16 Ermittelt ohne nachzufragen
Zeuge am 307. Verhandlungstag: Ein BKA-Beamter, der nach einer unbekannten NSU-Tat suchen sollte. Seine Ermittlungen erscheinen aber eher oberflächlich.
Es war eine Aussage wie ein Paukenschlag. Der Angeklagte Carsten S. sprach im NSU-Prozess, kurz nach Beginn im Sommer 2013, von zwei weiteren möglichen NSU-Taten, die bis dahin nicht bekannt waren. Der Angeklagte Ralf Wohlleben habe ihm erzählt, die untergetauchten Neonazis Mundlos und Böhnhardt hätten „jemanden angeschossen“, berichtete Carsten S.
Ungelöste Fälle überprüft
Das Bundeskriminalamt bekam den Auftrag die Aussage zu überprüfen. Nach einer Vernehmung von Carsten S. außerhalb des Prozess grenzten die Ermittler den Zeitraum, in dem die mögliche NSU-Tat liegen könnte, ein und baten die Landeskriminalämter um Unterstützung. Die überprüften ihre ungelösten Fälle und meldeten alle, die aus ihrer Sicht in Frage kamen, an das Bundeskriminalamt. Etwa 80 Fälle landeten so beim BKA, schilderte einer der zuständigen Kriminalisten nun als Zeuge im Prozess. Sie wurden mit dem Vorgehen bei den bekannten NSU-Taten verglichen. Ergebnis: Keine der gemeldeten ungeklärten Taten passte aus Sicht des BKA zu der Aussage von Carsten S., dass Mundlos und Böhnhardt jemanden angeschossen hätten.
Ungenau verglichen?
Der Zeuge schilderte die angewandten Vergleichsmethoden. Einige der ungeklärten Taten, seien ausgeschlossen worden, weil bei ihnen die Täter den Opfern vor der Ermordung Anweisungen erteilten. Das passe nicht zum Modus Operandi des NSU, sagte der BKA-Ermittler im Zeugenstand, doch damit liegt er falsch. Im Rostocker Mordfall Turgut wird davon ausgegangen, dass Mundlos und Böhnhardt ihr Opfer aufforderten sich hinzuknien. Kannte der BKA-Beamte die NSU-Morde nicht ausreichend gut, um sie wirklich mit ungeklärten Taten vergleichen zu können?
LKAs überprüften unterschiedlich
Außerdem wurden die Rückmeldungen der Landeskriminalämter nicht hinterfragt, obwohl offenkundig ist, dass sie die ungeklärten Fälle jeweils nach völlig unterschiedlichen Kriterien überprüften. So meldete das LKA Berlin ausschließlich ungeklärte Mordfälle an das BKA. Carsten S. hatte aber angegeben, Mundlos und Böhnhardt hätten jemanden „angeschossen“. Ob er da nicht mal nachgefragt habe, wollte nun ein Nebenklage-Anwalt von dem Zeugen wissen. Nein, das habe er nicht, sagte der BKA-Ermittler.
Gab schon zuvor Suche nach unbekannten NSU-Taten
Was der Zeuge nicht erwähnte, aber zur Einordnung seiner Angaben wichtig ist, ist allerdings die Tatsache, dass bereits vor der Aussage von Carsten S. bundesweit nach ungelösten Fällen gesucht wurde, die zum NSU passen könnten. Das geschah bundesweit nach Auffliegen der Terrorzelle 2011. Ohne Ergebnis. Bekannt wurde eine weitere Tat dennoch – ausgerechnet durch Carsten S. Als er im Prozess davon erzählte, Mundlos und Böhnhardt hätten jemanden angeschossen, berichtete er auch von einem Sprengstoffanschlag der Beiden in Nürnberg. Gemeint war die sogenannte Taschenlampenbombe in einer Nürnberger Bar. Diese Tat wird von den Ermittlern mittlerweile dem NSU zugerechnet.
Jugendfreund im Zeugenstand
Weiterer Zeuge heute im Prozess: Ein Chemnitzer, der sich selbst als Skinhead bezeichnete. Er wuchs in den 90er Jahren gemeinsam mit einem Teil der Angeklagten in Jena-Winzerla auf und wurde zu einer möglichen Schlägerei 1998 oder 1999 an einer Straßenbahnhaltestelle befragt. An der Schlägerei soll auch der Angeklagte Ralf Wohlleben beteiligt gewesen sein. Der Zeuge gab an, sich nicht an eine Schlägerei erinnern zu können. Später gab er, erst auf Nachfrage einer Nebenklage-Anwältin, an, einen freundschaftlichen Kontakt zu Wohlleben zu pflegen und ihm aktuell auch in die Untersuchungshaft zu schreiben.