Berlin - Schweden Astrid Lindgren und ihre deutsche Freundin
Astrid Lindgren stand 1953 am Beginn einer beispiellosen Weltkarriere. Bei einem Berlin-Besuch lernte sie die Deutsche Louise Hartung kennen - und es entwickelte sich eine ganz besondere Freundschaft: In über 600 Briefen in elf Jahren teilten die Weltschriftstellerin und die pädagogisch engagierte Sängerin ihre Freuden und Sorgen. Eva Mattes und Oda Thormeyer erwecken den Austausch dieser klugen Chronistinnen des Alltags zwischen Schweden und Deutschland wieder zum Leben.
Stockholm - Berlin, Nachkriegszeit: Zwei Frauen führten ein Gespräch, das elf Jahre dauerte, ein intensives Gespräch über Arbeitsleben und Freundschaft, Sinn und Zweck von Kunst und Literatur - und nicht zuletzt über die Liebe. Als sich die Beiden 1953 in Berlin kennenlernten, war noch nicht absehbar, dass Astrid Lindgren einmal die wichtigste Kinderbuchautorin des 20. Jahrhunderts werden würde, doch hatte die Schwedin in der gebürtigen Münsteranerin Louise Hartung (1905-1965) bereits eine treue Leserin gefunden.
Louise Hartung, früher eine international auftretende Konzertsängerin, war seit Ende des Krieges in die politische Aufbauarbeit eingestiegen, wurde SPD-Abgeordnete mit einer Jahr für Jahr wachsenden Mitverantwortung beim Wiederaufbau der Kunstszene in der zerstörten Stadt. Anfang der 1950er Jahre war Hartung im Hauptjugendamt tätig. Es galt, eine neue Pädagogik für eine demokratische Gesellschaft zu entwickeln und seit Louise Hartung 1952/53 "Pippi Langstrumpf" gelesen hatte, empfahl sie das Werk an Eltern, Kinder und Jugendliche wie warme Schrippen - es sei einfach "das beste Buch der Welt"!
Zwei berufstätige Frauen zwischen Berlin-Krise und Sinnkrise
"Manchmal frage ich mich, warum ich lebe, warum Menschen überhaupt leben. Aber das erzähle ich nur Dir – ich laufe nicht mit hängendem Kopf herum, so dass es jemand sieht. Falls Du weißt, warum Menschen leben, dann schreib und erzähl es mir."
(Astrid Lindgren an Louise Hartung)
Lindgren war 45 Jahre alt und hatte vor kurzem ihren geliebten Mann Sture verloren, als sich die beiden Frauen im Oktober 1953 auf dem Tempelhofer Flughafen zum ersten Mal trafen. Während ihres Aufenthalt in Berlin, wo sie vor Bibliothekaren und Buchhändlern sprach, wurde die Schriftstellerin von Louise Hartung betreut: Sie fuhren beispielsweise zusammen nach Ost-Berlin: "Ruinen und Ruinen, es war wie auf einem anderen Planeten", so erinnerte sich Astrid Lindgren später an diese ihr "unheimlichen" Stadtansichten.
Der von Jens Andersen und Jette Glargaard herausgebene Briefwechsel "Ich habe auch gelebt!" ist nicht nur das Doppelporträt unabhängiger Frauen, sondern gewährt auch profunde Ein- und Ansichten aus der turbulenten Nachkriegszeit, in der sich das Leben im neutralen Schweden grell abhob von dem Alltag in Berlin. Die zerstörte Stadt stand im Zentrum des Kalten Krieges, war gebeutelt von Flüchtlingsströmen (13 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene hielten sich nach dem Krieg in Deutschland auf). Und doch sollte bald schon das ganze Land einen überraschenden Aufschwung erleben, mit "Wirtschaftswunder" und Vollbeschäftigung.
"Louisechen Berlinchen"
"Du wunderst Dich und kannst das Rätsel nicht begreifen noch lösen, warum so viele Menschen Dich lieben. Und ich wundere mich und kann das Rätsel nicht begreifen, wie Du ausgerechnet einen so wundervollen Menschen wie mich nicht lieben kannst! Einig sind wir uns nur im Wundern."
(Louise Hartung im Januar 1957 an Astrid Lindgren)
Astrid Lindgrens erste Briefe an "Louisechen Berlinchen" kamen auf Deutsch nach Berlin, dann folgten einige auf Englisch und ab 1954, als Lindgren erfuhr, dass das stets auf Deutsch schreibende "Louisechen" Strindberg im Original lesen konnte, fiel Astrid gänzlich ins Schwedische. Meistens vergingen zwischen ihren Antworten höchstens wenige Wochen, obwohl beide Frauen viel beschäftigt waren. Als leitende Kinderbuchlektorin beim Verlag Rabén & Sjögren schickte Astrid bis 1970 zahllose Briefe in die ganze Welt. Doch als ihre Popularität wuchs und zehntausende Fan-Briefe bei ihr eintrudelten, die die Autorin alle beantworten wollte, zerbrach ihr unbeschwertes Verhältnis zur Briefschreiberei.
Nichtsdestotrotz teilten sich Astrid Lindgren und Louise Hartung über elf Jahre lang Freud und Leid ebenso wie politische Ansichten mit und korrespondierten intensiv über Gegenwartsliteratur und Klassiker, Musik und bekannte Schicksale aus publizierten Tagebüchern.
"Manchmal bin ich richtig traurig darüber, dass so viele Menschen, unendlich viele, auf unserer Erde lebten und starben, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen, rein gar nichts, was uns, die wir jetzt leben, verkünden würde: Ich habe auch gelebt!"
(Astrid Lindgren, 1964)
Die Belege dieser intensiven Freundschaft zeigen nicht nur die Weltschriftstellerin Astrid Lindgren von einer neuen Seite. Der berührende briefliche Austausch ist eine der wenigen Lebensspuren von Louise Hartung, die überdauern wird.
Astrid Lindgren: "Liebe, süße Louise" - Porträt einer Freundschaft
Berühmt durch Film, Fernsehen, Theater und viele Hörbücher: Eva Mattes leiht Astrid Lindgren ihre Stimme in den radioTexten am Dienstag.
am 14. Juli in den radioTexten am Dienstag um kurz nach 21.00 Uhr auf Bayern 2
Lesung mit Eva Mattes und Oda Thormeyer
Moderation: Antonio Pellegrino
Das Buch "Ich habe auch gelebt! Briefe einer Freundschaft", herausgegeben von Jens Andersen und Jette Glargaard, aus dem Englischen, Schwedischen und Dänischen von Angelika Kutsch, Ursel Allenstein, Brigitte Jakobeit übertragen, ist bei Ullstein erschienen, das gleichnamige Hörbuch (gekürzte Lesung auf 6 CDs) mit Eva Mattes und Oda Thormeyer ist bei Hörbuch Hamburg erschienen.
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