Utopia entdecken Zukunftsreisen von Morus bis Graf
Auch wenn Utopien als naiv abgetan werden und ihr Ende beschrien wird: an den Träumen von einer besseren Welt halten wir Menschen hartnäckig fest. Das Genre des utopischen Romans ist eine der einflussreichsten literarischen Denkströmungen der abendländischen Tradition, beginnend mit den antiken Mythen des Goldenen Zeitalters bis zu den Schreckensvisionen des 20. Jahrhunderts. In drei Folgen verfolgen die radioTexte den teilweise jahrhundertealten Spuren im Universum der schriftstellerischen Fantastereien - von Cyrano de Bergerac bis zu Oskar Maria Graf.
"Utopia" - was wäre der beste Staat?
1516, ein Jahr bevor Luther seine 95 Thesen verkündete und Magellan zu seiner ersten Weltumsegelung aufbrach, erschien "Utopia" (Originaltitel: „Vom besten Zustand des Staates und der neuen Insel Utopia“) von Thomas Morus, ein Reisebericht über eine fantastische Insel, auf der alternative Lebenseinsichten verwirklicht, ein idealer Staat gelebt wird - ein Gegenentwurf zum tatsächlichen englischen Alltag.
"(W)ie sollte man auf den Gedanken kommen, es könnte einer überflüssige Forderungen stellen, der doch sicher ist, dass es ihm nie an etwas fehlen wird? Habgierig und räuberisch macht ja alle Lebewesen immer nur die Furcht vor künftigem Mangel; nur bei dem Menschen kommt der Hochmut hinzu, der es für einen Ruhm hält, durch Prunken mit überflüssigen Dingen sich vor den anderen hervorzutun – eine Art von menschlicher Schwäche für die es innerhalb der gesellschaftlichen Verfassung der Utopier überhaupt keinen Platz gibt."
(Aus: Utopia, Thomas Morus)
Einige seiner Gedanken sind zwar den Staatsentwürfen von Aristoteles, Epikur und Platon entlehnt, doch als Ganzes betrachtet und in seiner literarischen Form des Reiseberichts war "Utopia" ein Novum. "Utopia" avancierte nicht nur zum Klassiker, sondern ist namensgebend für ein ganzes literarisches Genre, beginnend mit den antiken Mythen des Goldenen Zeitalters bis zu den Schreckensvisionen und Katastrophenentwürfen des 20. Jahrhunderts.
Ersehntes "Nirgendwo"
Utopien sind, wörtlich genommen, "Nicht-Orte" (vom griechischen "topos", also "Platz" oder "Raum", der durch die griechische Vorsilbe ou- verneint ist), also ein ersehntes Nirgendwo. Schriftsteller siedeln ihre fantastischen "Nirgendwos" gern auf fernen Planeten, in kommenden Zeitaltern, im Inneren der Erde oder auf Inseln an. Daran hat sich auch nach Jahrhunderten nichts geändert, in denen berühmte und populäre Schriftsteller*innen ihre vielfältigen Beiträge zur Utopie und ihren späteren Ausformungen geleistet haben: Christine de Pizan, Francis Bacon, Daniel Defoe, Bernard Mandeville, Jonathan Swift, Mary Shelley, Aldous Huxley, Jewgeni Samjatin, H. G. Wells, George Orwell, Ernst Jünger, Walter Jens, Ursula K. Le Guin, Ray Bradbury, Marge Piercy, William Gibson oder Margaret Atwood sollen hier nur als einige wenige Beispiele stehen.
Die schönen neuen Welten der Dystopie
Ihre Hochzeit feierte die Utopie vor allem im 18. Jahrhundert, im Zeitalter der technischen Neuerungen, der Geschwindigkeit, des politischen Umbruchs. Doch mit Beginn des 20. Jahrhunderts wandelten sich die Träume idealer Inselgesellschaften in Albtraum-Szenarien, siehe Aldous Huxleys "Schöne neue Welt" oder George Orwells weltbekannter Roman "1984". Jenseits von "Mittelerde" oder "Nimmerland" sind große utopische Entwürfe heute rar; der Trend geht zu autobiografischen oder autofiktionalen Erzählungen in der realen Welt, in der Wissenschaft und Technologie sich rasend schnell verändern.
"Die Linie zwischen Science-Fiction und Wissenschaft ist so dünn im Moment, dass wir nicht sehr weit voraus denken müssen. Was verschiedene Konzerne oder Staaten und ihr Militär entwickeln, wird unseren Alltag in nur ein oder zwei Jahrzehnten beeinflussen. Nicht erst, wie in den Utopien des späten 19. Jahrhunderts, in 100 Jahren." (Literaturwissenschaftler Matthew Beaumont)
Eine Renaissance der großen literarischen Utopien scheint in spätmodernen Zeiten also schwer denkbar, erscheint der Entwurf einer idealen Gesellschaftsordnung doch zu naiv. Nichtsdestotrotz: Solange die Menschheit mit Kriegen, Ungleichheit, Flüchtlingselend und dem Klimawandel zu kämpfen hat, bleiben die "unendlichen Weiten einer fernen Zukunft", bleibt der schriftstellerische Ideenraum für literarische Wolkenkuckucksheime, erhalten.
In einer dreiteiligen Reihe lassen die radioTexte am Dienstag berühmte und nicht ganz so berühmte Fantastereien von Autoren aus mehreren Jahrhunderten zu Wort kommen, darunter Cyrano de Bergerac, Samuel Butler, Edward Bellamy, Karl May und Oskar Maria Graf.
Dreiteilige Reise nach Utopia - "Früher war die Zukunft"
Ausflüge zu literarischen Utopien aus mehreren Jahrhunderten
am 26. Januar sowie am 2. und 9. Februar in den radioTexten am Dienstag,
kurz nach 21.00 Uhr auf Bayern 2
Moderation und Redaktion: Antonio Pellegrino
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