Deutscher Kahlschlag? Mythos "Stunde Null"
Im aktuellen Gedenken zu 70 Jahren Kriegsende ist auch ein alter Topos wieder in Umlauf: die Rede von der "Stunde Null". Sie suggeriert einen absoluten Neuanfang, den es so nicht gegeben hat - und wurde von Künstlern früh hinterfragt.
"Stunde Null", das ist ein suggestiver Titel, markiert er doch den Zusammenbruch des Deutschen Reiches nach dem Sieg der Alliierten zugleich als vollkommenen Bruch mit dem Vorangegangenen. Das allerdings ist ein Mythos. Zwar bedeutete das Jahr 1945 einen politischen Schnitt - das NS-Regime wurde beendet, Deutschland besetzt und geteilt. Doch es blieben nicht nur personelle Kontinuitäten in Politik und Gesellschaft: Auch die Einstellungen, die viele Deutsche während des Dritten Reiches gehabt hatten, waren nicht mit einem Schlag aus der Welt. Und im chaotischen Alltagsleben der ersten Nachkriegsjahre erinnerte ebenfalls vieles an die letzte Kriegszeit.
Kontinuitäten und Verdrängungen
Die Formel von der "Stunde Null" ist also eher eine Beschwörung als die Beschreibung von Realitäten - eine folgenreiche Beschwörung freilich, denn sie bedeutete auch, die Vergangenheit zu verdrängen. Nach den frühen Entnazifizierungs-Initiativen durch die Alliierten unmittelbar nach Kriegsende wurde in der politischen Debatte der gerade gegründeten Bundesrepublik sehr bald die Forderung nach einem "Schlussstrich" und konkret nach einer Amnestie für die "Minderbelasteten" und "Mitläufer" laut. Schon Ende 1949 beschloss der junge Bundestag ein Straffreiheitsgesetz, von dem Nationalsozialisten profitierten. Mit zu vielen Vorbestraften, so lautete wohl das Kalkül, sei ein neuer Staat nicht zu machen. Die ebenfalls 1949 gegründeten DDR verstand sich als explizit antifaschistisch - und hatte damit sozusagen per definitionem mit den Verbrechen Nazi-Deutschlands nichts zu tun.
Künstlerischer Neubeginn?
Auch unter Intellektuellen und Künstlern war das Konzept einer "Stunde Null" in Gebrauch - und durchaus hoch umstritten. Es gab ganz unterschiedliche Fraktionen: die Exilanten und diejenigen, die in die "innere Emigration" gegangen, also in Deutschland geblieben und vielleicht Kompromisse mit der Macht eingegangen waren. Es gab einerseits den Wunsch nach einem ästhetischen Neubeginn, andererseits aber auch Bemühungen, an die von den Nazis gewaltsam abgeschnürten Aufbrüche der Moderne anzuschließen.
In den Anfangsjahren der Gruppe 47 hielt man sich eher an das Ideal einer neuen Literatursprache, die als Kontrapunkt zum aufgeladenen Ton des Faschismus lakonisch, sachlich, pathosfrei sein sollte, und ihre Protagonisten vertraten dieses Programm auch als den Entwurf einer Art "Nullpunkt"-Literatur. Dass gerade in dieser Absetzbewegung, so gut ihre Absichten auch sein mochten, eine Geschichtsvergessenheit liegen könnte, machten andere Literaturauffassungen deutlich: Ein Autor wie Arno Schmidt etwa teilte die Vision einer nicht-kontaminierten Sprache grundsätzlich nicht. Seine Spracherkundungen gehen ebenso anarchisch wie pedantisch der Nebenbedeutung in der Hauptbedeutung und dem Unausgesprochenen im Gesprochenen auf den Grund. Folgerichtig zertrümmerten sie auch lustvoll die tröstliche Idee von der "Stunde Null".
Politik, Literatur und Kunst
Das radioThema auf Bayern 2 bringt Positionen und Debatten rund um den Mythos der "Stunde Null" ins Radio. Es geht um Politik, Geschichtsschreibung und unterschiedliche Kunstsparten wie Theater, Kino und Literatur, es kommen Texte und Töne zu Gehör. Gesprächspartner sind der Filmemacher Edgar Reitz, der 1977 einen Spielfilm mit dem Titel "Die Stunde Null" gedreht hat, die Zeichnerin Barbara Yelin, die in ihrer im Herbst 2014 erschienenen Graphic Novel "Irmina" eine Geschichte aus dem Dritten Reich zwischen Freiheit und Ideologie erzählt, der Literaturwissenschaftler Sven Hanuschek und der Historiker Frank Bajohr.
radioThema
Mythos "Stunde Null": Ein deutscher Kahlschlag?
Von Niels Beintker und Martina Boette-Sonner
Donnerstag, den 7. Mai 2015 ab 20.03 Uhr auf Bayern 2