Bayern 2 - Hörspiel


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Elfriede Jelinek Die Schutzbefohlenen Coda/Appendix

Stand: 12.02.2018 | Archiv

Hörspiel Pool Download "Die Schutzbefohlenen": Elfriede Jelinek | Bild: picture-alliance/dpa

Platz 1 der hr2-Hörbuch-Bestenliste Juni 2014

"Wie der Chor in der griechischen Tragödie und verwoben mit Texten aus den 'Schutzflehenden' von Aischylos treten in diesem Hörstück Asylsuchende als unsere Schutzbefohlenen vor. Sie erzählen ihre Geschichte, klagen an, trauern. Unter der Regie von Leonhard Koppelmann entstand ein Stück über Flucht, Vertreibung und die Gegenwehr der Satten. Ein beeindruckendes und beachtenswertes Hörspiel." (Jurybegründung)

„Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da“, sagt der Chor in Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen. Obwohl sie in jüngster Zeit überall präsent sind, die Bilder von Flüchtlingsmengen, die sich auf Booten drängen und die Festung Europa zu erobern suchen, oder von aufbegehrenden Asylbewerbern in deutschen Städten, die auf öffentlichen Plätzen in den Hungerstreik treten; Stimmen haben diese Menschen selten. Geschrieben als Reaktion auf jüngste Asylproteste in Wien, wo eine Gruppe von Flüchtlingen die Votivkirche besetzte, und später durch Zusatztexte zur Flüchtlingssituation auf Lampedusa erweitert, überführt Elfriede Jelinek in Die Schutzbefohlenen das Tagespolitische ins uralte Menschheitsdrama von Flucht und Abweisung: Die nur puzzleartig aufscheinenden aktuellen Ereignisse verweben sich mit anderen Texten und Diskursen, unter anderem mit Die Schutzflehenden des Aischylos. Aus den Schutzflehenden in der ältesten bekannten griechischen Tragödie werden aber vor dem Hintergrund von aufgeklärter westlicher Welt und vermeintlich allgemein gültigen humanistischen Werten die Schutzbefohlenen: also diejenigen, denen man verpflichtet ist, Schutz zu geben. Und es wird die Verweigerung dieses Schutzes nicht weniger als zum Verrat am Menschenrechtsgedanken selbst. Es ist nicht zuletzt die Entlarvung solchen Verrats, um den es im Chor der Schutzbefohlenen geht, in den sich auch andere Perspektiven mengen. In die Stimmen der Schutzsuchenden nisten sich die der Gegner und die von Ausnahmeerscheinungen, denen aus politischer Gefälligkeit oder einfach nur wegen ihrer Prominenz Sonderbehandlung zuteilwird.

Fortschreibungen

Das 2013/2014 geschriebene Stück Die Schutzbefohlenen aktualisierte die Autorin im September und Oktober 2015 mit zwei Fortschreibungen, Coda und Appendix.

"Da zittert was, das Boot, es zittert, das ist doch Zittern, oder?, nein, dafür gibt es noch ein andres Wort, nein, das paßt mir auch nicht, es wackelt, das Boot, es schwankt, wahrscheinlich weil Hermes und Athene nicht als Pinne im Kompaß eingebaut sind, zwischen ihnen zittert was, das Boot zittert vor Angst, nein, es schaukelt, weil diese Leute nicht ruhig sitzen können; kein Mann hält die Segel, Segel hat es keine, die wären aber praktisch, es hat noch Luft, das Boot, es wird sie auch brauchen, da ist noch Luft drinnen, aber nicht mehr lang. Da ist noch Luft nach oben, aber nicht mehr lang. Dann gehts nach unten, dann nehmen wir ein Bad. Der Körper wird zum Gedanken wird zum Körper, und der Gedanke verhält sich zu seinem Wirt wie die Schneide zum Messer. Gehts hier in den marmornen Wald mit steinernen Bäumen, wenn ja, dann wären wir gern hier, nein, hier gehts nach Griechenland zu den Göttern, womöglich kommen Sie nie hin, Sie und die Kameraden, bitte, das Boot ist wie ein, jetzt fällt es mir nicht ein, wie ein dicht bestecktes Nadelkissen in der Weiberwelt, voll will ich nicht sagen, ja, aber voll ist es trotzdem. Kein Nadelwald in der Nähe, den hat das Boot gemieden, das Wasser satter als Glas, aber unzerbrechlich, es teilt sich, es wächst zusammen, was zusammengehört, alles eins, Wasser eben. Nur die Menschen gehen kaputt, die hineinfallen. Zerbrechen können sie nicht, das Wasser nimmt sie auf, es nimmt die Menschen in den Schnabel, nein, Schnabel kann man nicht sagen, so wie man zittern nicht sagen kann, bitte, kann mir jemand neue Wörter hereinreichen, vielen Dank, Wörter marschieren, auch hier sind welche aufgeschrieben, die Küche ist eröffnet, nur zu essen gibt es nichts, nein, zu trinken auch nicht, ist Ihnen das denn nicht genug Wasser hier, wollen Sie etwa noch mehr?"

Elfriede Jelinek, 'Die Schutzbefohlenen, Coda'

"Die Eroberung der Welt als Bild, das war einmal, denn Bild ist ja Herstellen. Die Menschen werden aber nicht hergestellt, und sie bleiben nicht, wo sie hingestellt werden. Sie kämpfen um ihre Stellung, das ist keine Stellung, so wie Sie sich das vorstellen, das ist einfach, wie sie sind. Sie haben es aufgegeben, dem Seienden ein Maß zu geben, denn das Maß ist noch nicht geschöpft, in das sie hineingehen. Sie gehen aber. Sie gehen weiter. Keine sonnengebräunten Wangen, aber wunde Herzen, tränenkundig, ja, weinen, das können sie. Sie müssen es können, alle außer Ärzten und Sehern, denen es schon vergangen ist, müssen es können. Was, Sie hatten drei Kinder, und jetzt sind es nur noch zwei, das dritte, zufällig drei Jahre alt, fehlt plötzlich? Das ist noch gar nichts im Vergleich zu anderen, die es gar nicht mehr gibt, beruhigen Sie sich!"

Elfriede Jelinek, 'Die Schutzbefohlenen, Appendix'

Die Schutzbefohlenen, Coda/Die Schutzbefohlenen, Appendix

Elfriede Jelinek Autorinnenlesungen
BR 2016

Elfriede Jelinek, geb. 1946 in Mürzzuschlag/Steiermark. Lyrik, Prosa, Theatertexte, Libretti, Drehbücher, Hörspiele. BR-Hörspiele u.a. Die Jubilarin (1977), Die Ausgesperrten (SDR/BR/RB 1978, SDR 1990), Burgteatta (BR/ORF 1991), Präsident Abendwind (1992), Stecken! Stab! und Stangl! – Eine Leichenrede (ORF/BR/NDR 1996), Todesraten. Hörstück nach zwei Monologen von Elfriede Jelinek (1997, Hörspiel des Monats Juni 1997), er nicht als er (1998), Jackie (2003, Hörspielpreis der Kriegsblinden 2004), Moosbrugger will nichts von sich wissen (2004), Bambiland (2005), Sportchor (2006), Ulrike Maria Stuart (2007), Bukolit (2009), Rechnitz (2011), Neid (2011), Kein Licht. (2012), Die Straße. Die Stadt. Der Überfall (2013), Wirtschaftskomödie (BR/Dkultur 2015), Das schweigende Mädchen (2015).


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