Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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2. September 1874 Winnetou stirbt

Old Shatterhand und Winnetou - eine Freundschaft, die unzählige Nachahmer fand. Genauer, eine Blutsbrüderschaft, die alles überdauerte. Auch den Eingang in die ewigen Jagdgründe.

Stand: 02.09.2014 | Archiv

02 September

Dienstag, 02. September 2014

Autor: Herbert Becker

Sprecher: Hans-Jürgen Stockerl

Illustration: Angela Smets

Redaktion: Susi Weichselbaumer

Er streckte mir die Hand entgegen. Seine Augen glänzten:  "Mein Bruder Old Shatterhand mag mit mir kommen!" Es war das erste Mal, dass er mich ´mein Bruder´ nannte." Winnetou und Old Shatterhand werden Freunde. Das Größte überhaupt! Vor allem: Es war wahr! Es war - wie soll man sagen? - eine mythische Wahrheit, viel, viel wahrer  als die andere, die mit Schule, Eltern und so.

Nie mehr haben wir uns später so stark mit irgendjemandem identifiziert wie damals mit Winnetou und Old Shatterhand. Da war kein Unterschied zwischen uns und ihnen. Gut, bis auf ein paar winzige Kleinigkeiten: Beim Schließen der Blutsbrüderschaft haben wir uns nicht in echt in die Finger geschnitten, und am Abend haben wir das Gebiet der feindlichen Komantschen verlassen und sind heimgegangen. Wir mussten ja auch weiterlesen.

Mein Bruder ...

"Winnetou hatte einen tiefen Eindruck auf mich gemacht, einen Eindruck, wie ich ihn noch bei keinem anderen Menschen empfunden hatte. Er war nicht viel älter als ich, und doch mir so überlegen! Das hatte ich gleich beim ersten Blick herausgefühlt. Die ernste, stolze Klarheit seines sammetweichen Auges, die ruhige Sicherheit seiner Haltung ... hatten es mir angetan." Wie wir später erfuhren, haben so genannte Literaturwissenschaftler von homoerotischen Tendenzen bei Karl May gefaselt. Also bitte! Die hatten einfach so richtig überhaupt nichts kapiert. Wir dagegen, wir hatten alles verstanden. Wir waren Winnetou und Old Shatterhand, und Old Shatterhand war außerdem Karl May und alles war eins. Eine Seele. Ja, doch! Winnetous Vater hat es selber gesagt:

"Die Seelen dieser beiden jungen Krieger mögen ineinander übergehen, auf dass sie eine einzige Seele bilden. Was Old Shatterhand denkt, sei fortan auch Winnetous Gedanke, und was Winnetou will, das sei auch der Wille Old Shatterhands." 

Im Praktischen hieß das, dass im Rechnen jeder vom anderen abschreiben durfte. Und dass wir keine Geheimnisse voreinander hatten - vor anderen dafür umso mehr. Das mit der Zehnerschachtel HB zum Beispiel, die wir brauchten, um Friedenspfeife zu rauchen.

Bis dass der Tod uns scheidet

Das einzige, womit wir ein bisschen ein Problem hatten, war Winnetous Tod.
Na ja, da bekam man schon beim Lesen so einen Knödel in den Hals, und das durfte eigentlich nicht sein. Nachspielen ließ sich die Szene auch nicht, schon wegen Winnetous letzten Worten: "..., ich glaube an den Heiland. Winnetou ist ein Christ. Leb wohl!"

Und dann lässt er sich auch noch das Ave Maria vorsingen! Das Ave Maria!!!
Wo unsereiner nicht einmal in der Maiandacht mitgesungen hat! Das war ... irgendwie zu viel. Hier erlitt unser Wille zur rückhaltlosen Identifikation einen Knacks.

Daran änderten auch die Karl-May-Filme nichts. Wir gingen ins Kino mit dem festen Vorsatz, sie ganz, ganz toll zu finden - und konnten es weder vor anderen noch vor uns selbst zugeben, dass sie bei Weitem nicht das auslösten, was wir früher einmal empfunden hatten. Und während es in den Aufzeichnungen von Karl May heißt, Winnetou sei am 2. September 1874 in eine andere Welt hinüber gegangen, starb der Apachenhäuptling in uns eines ganz allmählichen Todes. Eines Todes, der für uns weit weniger schmerzhaft war als der Tod des echten Winnetou für seinen Freund Schar-lih.

"Mich erfasste ein Schmerz, wie ich ihn in meinem ganzen Leben noch nicht gefühlt hatte. … Was soll ich weiter erzählen? Die wahre Trauer liebt die Worte nicht! … Er lag in meinem Schoße, grad so, wie er gestorben war. Was ich dachte, und was ich fühlte? Wer möchte das wohl fragen!"


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