5. Juni 1954 Haydn bekommt seinen Schädel zurück
Wo sitzt das Genie eines Komponisten? Im Kopf, dachte man wohl, ergriff die Gelegenheit und bemächtigte sich des Schädels von Joseph Haydn. Es dauerte über hundert Jahre bis der Kopf heimkehrte. Autor: Simon Demmelhuber
05. Juni
Freitag, 05. Juni 2020
Autor(in): Simon Demmelhuber
Sprecher(in): Johannes Hitzelberger
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
Köpfe, Zähne, Hände, Finger - das Mittelalter ist versessen auf Reliquien. Die Wunderknochen bannen das Böse, gewähren Schutz, spenden Kraft und Trost. Jahrhunderte später sind Heilige nicht mehr en vogue. Wer modern ist, ist jetzt kunstfromm, wissenschaftsgläubig, feiert das Genie, den kreativen Geist. Doch wo im Kopf steckt das Ingenium? Hinterlässt es Spuren, kann man es packen, greifen? Aber ja! lehrt um 1800 der Wiener Arzt Franz Gall. Der Geist formt den Schädel: Wo er rege wirkt, beult er die Knochendecke aus; wo er träge dämmert, sinkt sie ein.
Reliquie des Tonsinns
Galls Lehre steckt zahllose Schwärmer an. Tausende tasten mehr oder minder seriös erworbene Hirnschalen auf Mulden und Buckel ab. Leider liefert das Gros der Studienobjekte eher karge Erkenntnisse, der Schwarzmarkt gibt halt nur schnöde Alltagsschädel her. Ja, ein Künstlerhaupt! Das wär was! Eine Sternstunde der Wissenschaft, ein Glücksfall, eine Gelegenheit ersten Ranges.
Die Gelegenheit kommt und macht wie immer Diebe. Als Joseph Haydn am 31. Mai 1809 stirbt, hat Napoleon Wien besetzt. An eine schöne Leich ist nicht zu denken, Haydn wird in aller Stille beerdigt. Drei Nächte später ist es mit der Totenruhe vorbei. Ein bestochener Friedhofswächter öffnet das Grab, säbelt den Kopf ab, stiehlt sich davon. Anderntags nehmen Joseph Rosenbaum und Johann Peter die bereits heftig riechende Reliquie in Empfang. Die glühenden Gall-Anhänger gieren danach, am ausgekochten Hirnfuteral den Sitz des Tonsinns auszuforschen.
Der kopflose Meister
Dass Haydn seiner Auferstehung kopflos entgegenschlummert, fällt erst zehn Jahre später auf. 1820 beschließt Nikolaus von Esterházy, die ruhmreichen Relikte seines weiland ersten Kapellmeisters nach Eisenstadt heimzuholen. Man findet den Rumpf, findet die Perücke, die Hauptsache fehlt. Nachforschungen im Umfeld der Gall-Gemeinde führen rasch zu den Tätern.
Die Ertappten versichern, das Diebesgut auszuhändigen, jubeln dem Fürsten jedoch einen falschen Haydnkopf unter. Der echte bleibt in Wien, wird mehrmals diskret weitervererbt, bis er 1895 in die Obhut des Wiener Musikvereins gelangt. Dreißig Jahre lang ist der zahnlos grinsende Schädel das Prunkstück der ständigen Hausausstellung. Dann reklamiert das Burgenland den Kopf für sich. Nur, wem gehört der Haydn? Das Tauziehen um die kapitale Grundsatzfrage schleppt sich hin, bis 1938 der nunmehr großdeutsch-tausendjährige Landeshauptmann den Musikverein zur Herausgabe zwingt.
Zunächst aber steht die Welt in Flammen, danach muss ein Krieg entsorgt werden. Am 5. Juni 1954 findet in der Eisenstädter Bergkirche schließlich doch noch zusammen, was zusammengehört. Haydns offener Sarg ist vor dem Hochaltar der Eisenstädter Bergkirche aufgebahrt. Weihrauch weht, Ergriffenheit waltet, Ewigkeit schauert. Der Bildhauer Ambrosi erhebt und zeigt den Schädel, schwenkt ihn segnend wie das Allerheiligste, verneigt sich vor dem Katafalk, bettet das Haupt zum Restgebein. Eisenstadt ist um einen Ortsheiligen reicher, der seither ungeteilt und wallfahrtfördernd der Erweckung allen Fleisches harrt.
Kurz und gut: Deckel zu, endlich Ruh!