Kultur


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Ausstellung Jüdisches Museum Gekommen, um zu bleiben

Über 10.000 Menschen, die nach 1990 als Kontingentflüchtlinge nach Bayern migrierten, leben heute in München. Welche Geschichten haben sie mitgebracht und was kennzeichnet die jüdisch-russisch-bayerische Gegenwart? Die Ausstellung "Von ganz weit weg" im Jüdischen Museum München beleuchtet ein unbekanntes Kapitel neuester Zeitgeschichte.

Von: Annette Walter

Stand: 07.09.2012 | Archiv

Ausstellung "Von ganz weit weg" | Bild: BR/Beatrix Rottmann

"Bis zu einem gewissen Grad war 'Jude sein' nicht besonders vorteilhaft, zum Beispiel bei den Hochschulen oder wenn man einen Arbeitsplatz bekommen wollte. Es stand ja immer im Pass. Ich wollte zum Beispiel Journalistin werden, das war fast unmöglich", erinnert sich Marina Judkele an ihr Leben in Lettland vor 1989, in einem Land, das damals Teil der Sowjetunion war. Ihre Erinnerungen sind nachzulesen im Katalog zur Ausstellung "Von ganz weit weg", die am Mittwoch in München eröffnet. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 zwischen Ost und West, der friedlichen Revolution in Zentral- und Osteuropa und dem Zusammenbruch des Kommunismus begannen gravierende Veränderungen für Menschen wie Judkele.

Flucht vor schwelendem Antisemitismus

Stichwort Kontingentflüchtlinge

Die Bezeichnung Kontingentflüchtlinge verdeutlicht, dass nur ein begrenztes Kontingent an Flüchtlingen zugelassen wurde. Beschlossen wurde die Erlaubnis der Einreise von Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion von der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren Anfang 1991.

Auf einmal eröffnete sich für die Menschen, in deren Pass als Nationalität Jüdin oder Jude stand, eine neue Option, nämlich die, dem beängstigend schwelenden Antisemitismus in der Sowjetunion zu entkommen und nach Deutschland zu gehen. Im Land, in dem der Nationalsozialismus das einst vielfältige soziale und kulturelle jüdische Leben zwar fast vollständig ausgelöscht hatte, gewährte die freiheitlich-demokratische Grundordnung den Flüchtlingen zumindest eine Existenz ohne ständige Repressalien. "Die Religionsausübung war für viele Jüdinnen und Juden in der Sowjetunion nicht möglich gewesen", sagt Kuratorin Piritta Kleiner, die mit Jutta Fleckenstein das Konzept der Münchner Ausstellung erarbeitete. Deutschland beschloss, als Wiedergutmachung für die Verbrechen der Nationalsozialisten sogenannte Kontingentflüchtlinge aufzunehmen.

Von Sankt Petersburg nach München

So kam Marina Judkele, die 1962 im lettischen Riga geboren wurde, 1998 nach München. So landete auch Anatoly Paley, 1933 geboren, einst Professor für Physik und Astronomie, 1996 in München. Wie Paley waren 70 Prozent der Immigranten Akademiker, in großer Anzahl höchst musisch und künstlerisch interessiert. Dies gilt in besonderem Maße für Lena Gorelik, Schriftstellerin mit Geburtsort Sankt Petersburg, die 1992 als Kind in ein Land kam, das für sie und ihre Familie fremd war. Judkele, Paley und Gorelik zählen zu den zahlreichen Menschen, deren Geschichten in der Ausstellung im Jüdischen Museum München nun erstmals lebendig werden. Man erfährt, wer hinter den fast 28.000 Menschen steckt, die als Kontingentflüchtlinge nach Bayern gelangten: Komplexe Schicksale, gebrochene Lebensläufe, aber auch Erfolgsgeschichten. Deutschlandweit waren es mehr als 200.000 Einwanderer, die nach 1990 aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kamen. Sie belebten die dahinsiechenden jüdischen Gemeinden. Heute ist die Jüdische Gemeinde in München mit 9.421 Mitgliedern nur geringfügig kleiner als ihr Berliner Pendant, zu der sich 10.214 Menschen zugehörig fühlen.

Neue Heimat, neue Sprache, neuer Name

Für diese Kontingentflüchtlinge, die froh waren, den katastrophalen Bedingungen ihrer Heimat entflohen zu sein, änderte sich alles: die Umgebung, die Sprache und sogar der Name. Denn der wurde eingedeutscht, vom kyrillischen ins lateinische Alphabet übersetzt, klang plötzlich neu und fremd. In der Ausstellung kann der Besucher seinen Namen in die kyrillische Sprache übersetzen und erfährt so am eigenen Leib, wie groß die Distanz zu den für Deutsche kryptischen Buchstaben auf dem Zettel ist, die ein kleiner Drucker ausspuckt.

Geigerzähler im Reisegepäck

Gegenstände, die die Flüchtlinge aus ihrer Heimat mitbrachten, wurden erstmals in einem musealen Kontext ausgewertet. Manche muten in ihrer fast kindlichen Naivität liebenswert an, symbolisieren, wie fremd den Einwanderern diese Bundesrepublik tatsächlich war. Da wurden Geigerzähler eingepackt, die man nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl bei sich trug, oder Wolldecken, mit denen man dem deutschen Winter standhalten wollte. Viele der Flüchtlinge fühlten sich isoliert, staunten über deutsche Essgewohnheiten ("Wir hörten, dass die Deutschen Vogelfutter mit Milch zum Frühstück essen") und vermissten die gewohnte Umgebung.

In München zu Hause

Mitgliederzahlen

Das änderte sich, zumindest bei einem Teil der Eingewanderten. Davon zeugt die Äußerung von Revekka Semenova-Kobzar. Sie wurde von den Kuratorinnen der Ausstellung Jutta Fleckenstein und Piritta Kleiner wie viele andere Kontingentflüchtlinge nach den Umständen ihrer Migration gefragt, ihrer Erinnerung an früher, ihrer Wahrnehmung von Identität und ihrem Begriff von Heimat. Revekka Semenova-Kobzar, die auf ihrer Reise nach Deutschland eine Schellackplatte mitbrachte, die ebenfalls in der Ausstellung zu sehen ist, lässt in dieser Hinsicht kein Missverständnis aufkommen:

"Kiew ist nicht mehr meine Stadt. Dort sind nur noch Gräber. Ich bin in München zu Hause."

Revekka Semenova-Kobzar

Infos

Von ganz weit weg - Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
Kuratorinnen: Jutta Fleckenstein und Piritta Kleiner unter Mitwirkung von Lena Gorelik
Szenographie: chezweitz & roesapple, Berlin
Noch bis 27. Januar 2013 im Jüdischen Museum München am St.-Jakobs-Platz. Geöffnet von Dienstag bis Sonntag von 10.00 bis 18.00 Uhr.


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