Südtirol Die "Waale" – Wasserläufe der Kultur
Die Bergbauernbesiedelung Südtirols reicht weit zurück. Wegen des Wassermangels entstand besonders im Vinschgau die Kulturlandschaft der "Waale".
"Wenn Schlechtwetter gekommen ist, dann musste man in der Nacht nachschauen. Dann musste man überall hineingehen und nachschauen. Manchmal ist der Hagel zentimeterhoch gelegen. Dann ist das Wasser im Waal übergelaufen. Dann musste man die Gräben auskehren, damit das Wasser wieder rinnt. Die Waale waren mir anvertraut. Ich bin da hineingewachsen."
Ferdinand Kaufmann, ehemaliger Waaler, 90 Jahre
Neben der täglichen Kontrollarbeit musste ein Waaler vor allem auch unvorhergesehenen Naturereignissen in den Griff kriegen. Ferdinand Kaufmann hat ein halbes Jahrhundert als Waaler gearbeitet. Viele Wandlungen und Entwicklungen haben sein Schaffen begleitet.
Südtirols Waalwege sind heute weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannt. Sie gehören zur Kulturlandschaft schon lange dazu.
Künstliche Bewässerung gab es weltweit in sämtlichen Kulturen, so etwa die berühmte Nilbewässerung in Ägypten oder die Aquädukte im alten Rom. Auch in allen alpinen Regionen wurden im Laufe der Jahrhunderte oder auch Jahrtausende wegen der Niederschlagsarmut ausgeklügelte Techniken für die Fassung, den Transport und die Verteilung von Bewässerungswasser entwickelt.
Eine Jahrtausende alte Kultur geht den heutigen Waalwegen voraus. Sie sind Zeugnisse einer archaischen und doch bis gestern noch lebendigen Welt. Künstliche Bewässerungssysteme wie der Aquädukt in Laas im Vinschgau gab es schon im alten Rom.
In der trockenen, niederschlagsarmen Berglandschaft des Alpenraums hat der Mensch seit jeher ausgeklügelte Techniken für den Transport und die Verteilung des Bergwassers in die Kulturfelder entwickelt.
Lange, trockene Perioden kennzeichnen auch den Vinschgau. Mit einem einst 600 Kilometer langen Hauptwahlnetz entstand hier eines der ausgedehntesten Bewässerungssysteme in den Alpen.
Jedes Jahr aufs Neue werden die Waale in den Schludernser Wiesen gereinigt und sommerfit gemacht. Ein Bauernjahr beginnt.
"Im Frühjahr müssen wir an die Arbeit und den Graben sauber machen, was zugewachsen ist, herausputzen, damit das Wasser besser fließt. Das Wasser soll in die Wiese rinnen und nicht verloren gehen. Es ist kostbar."
Walter Klotz, Bauer in Schluderns
Jeder Bauer ist für die Reinigung der Waale in seinen Feldern zuständig. Der von der Versammlung bestimmte Waaler kontrolliert die gerechte Verteilung des Wassers zwischen den Bauern untereinander.
"Der Waaler hat einen festen Lohn über sechs Monate. Er muss dafür sorgen, dass der Hauptwaal Wasser führt und das Wasser den Besitzern zuzuteilen. Ich sage ihm: 'Morgen Mittag oder Nachmittag um Drei kannst Du Wasser vom Nachbarn zu Dir weiterleiten.' So rinnt es von Wiese zu Wiese. So, jetzt bin ich dran. Jetzt kann ich das Wasser zu mir umleiten. Das Wasser ist sauber, und so rinnt es über die Wiese. Eine Beregnungsanlage haben wir verhindert, weil die unsere Kanäle verschmutzt und verstopft."
Walter Klotz
Das Aufkeahren, die sogenannte Gmoan, wie die Waaler-Interessentschaft genannt wird oder die Kondeln – die Geschichte der Vinschger Wasserterminologie ist eine ganz besondere, sie geht zum Teil auf das Rätoromanische zurück.
Die gerechte Verteilung des Wasserwossers wird Road genannt. Roaden können von ein paar Tagen bis zu drei Wochen dauern und werden vor der Waaleinkehr im Frühjahr bei der Hauptversammlung ausgelost.
"So saugt der Boden das Wasser richtig auf, das hält dann auch für drei Wochen. Bei Beregnung muss man das dagegen mindestens jede Woche machen. Jetzt lässt man das Wasser rinnen, bis es unten ist."
Walter Klotz
Eis und Gletscher sind die Schätze des sonst so trockenen Vinschgaus, und diese Kostbarkeit für sich zu nutzen, ist die große innovative Leistung des Menschen. Der Waal führt das Wasser von der Fassungsstelle am Bach bis zur Kulturfläche hin.
Auf dem Kamm des talwärts gerichteten Waaldammes führt der Waalweg entlang, früher war dieser nur für die Kontrollgänge des Wartungspersonals gedacht. Als der Tourismus verstärkt einsetzte, entdeckten die Gäste zunehmend den Anreiz, die recht flachen Wege ohne große Steigungen bequem zu durchwandern.
Heute gehören viele dieser aufmerksam restaurierten und sorgfältig mit Geländern versehenen Waalwege zur Vinschger Kulturlandschaft, so auch der drei Kilometer lange Leitenwaal bei Schluderns.
Diese Traditionen beibehalten, bedarf aber vieler Arbeit. Mit Beginn der Zwischenkriegszeit wurde massiv in moderne Bewässerungsmethoden investiert. Dies hatte zur Folge, dass viele Waale in Südtirol aufgelassen wurden oder ganz oder nur teils durch Rohrsysteme ersetzt wurden. Aufwendige Konstruktionen ließen sich aber dennoch nicht vermeiden.
Weltweit sind solche Bewässerungssysteme verbreitet. Im Schweizer Kanton Wallis etwa werden sie Suone oder Fuhren genannt, in Österreich Fluder, Wuhr im Südschwarzwald und Levada heißen sie auf Madeira.
Holzgitter fangen Laub und Steine auf, die durch die Kraft des Wassers in den Kandeln und Rinnen weiter getragen werden.
Die Wasserrechte, um die oft hart gekämpft werden musste, wurden in sehr präzisen Satzungen niedergeschrieben. Seit dem 14. Jahrhundert etwa wird sehr detailliert festgehalten, wie viel jeder Bauer bei der sogenannten Gmoanarbeit zu leisten hat. Davon zeugen noch heute Aufzeichnungen. Auch kleinste Details nahmen in den Büchern Wichtigkeit ein. Manchmal wird sogar angegeben, wie kräftig die Magd zu sein hat, die zur gemeinsamen Arbeit geschickt wird.
Abseits der Verwaltung waren es natürlich die schwierigen Bedingungen im Gelände, die der Bevölkerung alle Kunst abverlangten. So auch beim fünf Kilometer langen Stabener Schnalswaal, der früher ein Parallelwaal zum großen Bruder, dem Tscharser Schnalswaal, war.
Streitereien mit den Nachbarn um das lebensnotwendige Wasserwosser haben oft über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte angedauert, das bekannteste Beispiel ist der Streit zwischen den Malsern und Burgeisern über den sogenannten Kriegwaal, wie ihn die Obervinschger heute oft noch nennen. Über 300 Jahre hat dieser Disput gedauert. Aber Vernunft und das allen gemeinsame Interesse haben dann doch gesiegt.
Einst wurden in ganz Südtirol mehr als 1000 Waale gezählt, aber mit dem Bau der ersten Beregnungsanlagen in St. Magdalena in Bozen um 1930 begann das rasche Verschwinden dieser Waale. Moderne Systeme ermöglichen es, das Bewässerungswasser bis in höher gelegenen Wiesen und entlegene Ecken zu pumpen.
Die Oberkronenberegnung nimmt heute im Talboden überhand, dennoch ist die Funktion des Waales als Zubringer zu den Beregnungsanlagen hin mancherorts unabdingbar.
Wo heute die Uhren der Beregnungsanlagen ticken, waren es früher die Waalschellen, die erklangen.
Das Wort des Waalers galt einst "wie das Wort des Evangeliums". Oft lebten sie als Einzelgänger beinahe die ganze Saison über in ihren Waalerhütteln, geschätzt und geachtet von den Bauern, manchmal aber auch verflucht, wenn zu wenig Wasser floss.
Was heute rudimentär erscheinen mag, waren damals wichtige Grundarbeitswerkzeuge und -mittel, vor allem die Waalschelle war des Waalers wichtigster Arbeitsgenosse.
Ein Kulturgut aus vorrömischer Zeit liegt am Leitenwaal, eine vormals befestigte Höhensiedlung der Bronze- und Eisenzeit, die von Archäologen Ende der neunziger Jahre in einer mehrjährigen Grabungskampagne untersucht wurde, das Ganglegg.
Waale erfüllen im weiteren Sinne auch Katastrophenschutz. Sie fangen herabfließendes Oberflächenwasser bei heftigen Niederschlägen oder starker Schneeschmelze auf und leiten es gefahrlos ab.
Auch das Vintschger Museum in Schluderns beherbergt Zeugen aus vergangenen Zeiten, die über das unverzichtbare Element "Wasserwosser“ erzählen.
In Südtirol entwickelten die Menschen einst ein Bewässerungssystem, das den Lebensbahnen eines menschlichen Organismus gleicht, die Waale. Heute, im 21. Jahrhundert, sind sie Zeugnisse einer beinahe untergehenden Kultur. Dennoch verweisen sie durch ihre Kraft auf Leben und auf eine Geschichte, die die Südtiroler Kulturlandschaft prägt, damals wie heute.
(Dieser Text ist eine stark verkürzte und redaktionell bearbeitete Fassung des Sendungsmanuskripts.)
Das Manuskript der Sendung Format: PDF Größe: 40,25 KB