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ADHS bei Erwachsenen ADHS: Sport und Medikamente helfen Erwachsenen

Bei ADHS denken viele Menschen an eine Kinderkrankheit. Doch unter der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung leiden auch Erwachsene. Die Entwicklungsstörung, die oft mit innere Unruhe, Gefühlsschwankungen und geringem Selbstwert einhergeht, "verwächst" sich nicht.

Von: Julia Richter

Stand: 05.09.2024

Diagnose ADHS: ADHS bei Erwachsenen: Sport & Medizin helfen!

An der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung leiden Kinder wie Erwachsene. ADHS hat verschiedene Gesichter. Zwei Betroffene erzählen, wie der Alltag mit der Krankheit aussieht. Und Experten erklären, wie man Patienten heute am besten behandeln kann.

Leben mit ADHS

Wenn Ludwig Müller unterwegs ist, entgeht ihm nichts. Jedes Details bemerkt er, quasi ohne jeden Filter. Das ist Fluch und Segen zugleich. Der 56-Jährige hat ADHS.

"Es ist einerseits spannend, weil ich so viel mitkriege. Es ist so, als würdest du permanent zappen – und das auf fünf Bildschirmen gleichzeitig. Es ist aber wahnsinnig schwierig, dabei das zu behalten, was ganz essenziell ist in dem Moment: Wo will ich denn jetzt eigentlich hin? Und oft habe ich dann vergessen, was ich machen wollte. Wenn ich ins Café gehe, dann sitze ich quasi an allen Tischen gleichzeitig – weil ich ja alles gleichzeitig mitkriege."

ADHS-Patient Ludwig W. Müller, München

Müller ist Kabarettist, Wortakrobat und Dichter. Die Diagnose ADHS hat er erst als Erwachsener bekommen. Seitdem kann er viele Schwierigkeiten besser einordnen, die ihn schon lange begleiten.

Typische ADHS-Symptome

  • Aufmerksamkeitsprobleme: sich nicht lange konzentrieren können
  • Hyperaktivität: oft innere Unruhe, sich getrieben fühlen
  • Impulsivität: etwa ungeduldig, aufbrausend sein

Auch mit Schulzeugnissen zur Diagnose

Viele Menschen sind mal chaotisch, unkonzentriert und hibbelig, ohne ADHS zu haben. Eine Diagnose kann nur der Facharzt stellen. Dies geschieht durch eine gründliche Anamnese. Hier sind besonders Schulzeugnisse von früher aufschlussreich, da sich im Text oft erste Hinweise verstecken. Zusätzlich nutzen Ärzte und Therapeuten die Beobachtung und vor allem standardisierte Fragebögen.

Fest steht: Die Störung muss seit der Kindheit durchgehend auftreten und zieht sich durch alle Lebensbereiche. Experten gehen davon aus, dass drei bis fünf Prozent der Erwachsenen betroffen sind.

"Bei der ADHS handelt es sich um eine lebenslange Störung, die aber dem Bereich der Entwicklungsstörung zugeordnet wird. Sie kann ganz verschiedene Gesichter haben und unterschiedlich stark ausgeprägt sein."

Dr. med. Carolin Zimmermann, Fachärztin für Neurologie und Nervenheilkunde, München

Negative Rückmeldungen seit der Kindheit

Bei Ludwig Müller ist es so, dass er kein Buch lesen kann. Seine Unruhe lässt das nicht zu. Auch während eines Kinofilms oder eines Theaterbesuchs muss er mehrmals aufstehen. Am besten funktionieren deswegen Hörbücher, nebenbei löst er Sudoku oder strickt. Wenn er Texte lernt, macht er zum Beispiel nebenbei Liegestütze. Ludwig Müller ist immer unter Strom: Schon als Kind hatte er mit den Folgen zu kämpfen: ADHS macht seinen Alltag oft zur Herausforderung.

"Du kriegst eigentlich in aller Regel eine negative Rückmeldung: Du kriegst also permanent reingedrückt: Es interessiert dich nicht! Du baust dauernd Mist! Du kapierst nichts! Du bist arrogant oder desinteressiert an allem! Du machst nichts zu Ende! Es ist alles ein Chaos! – Früher habe ich mich auch mal weinend in einen Sessel reinfallen lassen und gesagt, ich halt es nicht mehr aus."

ADHS-Patient Ludwig Müller, München

Viele Patienten müssen die Schule oder die Ausbildung abbrechen, auch wenn sie überdurchschnittlich intelligent sind. Biographien mit "Umwegen" sind nicht selten.

Auch Sabine Krist gehört zu den Spät-Diagnostizierten: Bei Frauen wird die Krankheit deutlich häufiger übersehen als bei Männern.

"Ich war ein totales ruhiges und ganz angepasstes Kind. Bei mir ist bis heute so, dass ich Aufgaben liegenlasse, die sehr schwer zu überblicken oder unangenehm sind. Oder es kommt irgendwann was dazwischen, dann bin ich komplett raus. Ein weiteres Thema ist die Vergesslichkeit, im privaten und im beruflichen Bereich. Ich vergesse Dinge, und die Konsequenzen sind dann sehr unangenehm."

ADHS-Patientin Sabine Krist, München

Mehrere stationäre Aufenthalte liegen hinter ihr. Nach einem Burnout finden Ärzte endlich die richtige Diagnose.

Kreativ, belastbar und ein Denken "out oft the box"

Wenn sich Ludwig Müller für etwas begeistert, kann er sich stundenlang damit beschäftigen - das ist der ADHS-typische Hyperfokus. Gerade lernt er hunderte Nach-Kommastellen der Zahl PI auswendig. Oder er lernt in kurzer Zeit eine neue Fremdsprache.

Manche sprechen von einer Störung – manche davon, "von einer anderen Art zu sein". ADHS kann nämlich auch ein Fundus sein: Viele ADHS-Patienten sind außerordentlich kreativ, belastbar, hilfsbereit und begeisterungsfähig, denken oft quasi "out oft the box".

"Ich erlebe meine Patienten als sehr veränderungswillig. Ich denke, dass ist auch der Grund, warum sie oft sehr spannende Berufe haben – im IT-Bereich oder dem künstlerischen und sozialen Bereich."

Dr. med. Carolin Zimmermann, Fachärztin für Neurologie und Nervenheilkunde, München

Ursachen von ADHS

Heute weiß man: ADHS entsteht aus dem Zusammenspiel verschiedener Faktoren: Zum einen ist es genetisch bedingt: Haben Mutter oder Vater ADHS, ist die Wahrscheinlichkeit deutlich höher, dass es das Kind auch bekommt.

Es gibt neurochemische Ursachen: Bestimmte Neurotransmitter sind bei Betroffenen aus dem Gleichgewicht.

Auch Umweltfaktoren können eine Rolle spielen: In der modernen Welt mit vielen ablenkenden Tätigkeiten, in der die Menschen viel sitzen, können Symptome verstärkt werden.

Auch Organ-Schädigungen können eine Rolle spielen.

"Die Botenstoffe, das Dopamin und das Nordadrenalin, spielen eine wichtige Rolle bei der Signalübertragung im Gehirn, im synaptischen Spalt. Diese Neurotransmitter helfen, dass Informationen von einer Nervenzelle zur anderen übertragen werden, und wenn das nicht gegeben ist, dann ist die Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit gestört."

Dr. med. Carolin Zimmermann, Fachärztin für Neurologie und Nervenheilkunde, München

Manche Forscher vermuten Strukturveränderungen in einigen Hirnregionen und versuchen, diese bildlich darzustellen. ADHS ist also keine "Mode-Krankheit" oder gar ein "Konstrukt".

"Das macht mich wütend, denn es suggeriert ja, dass ich mir das einbilde oder als Vorwand benutze, aber es ist ja so, dass ich tatsächlich darunter leide. Wenn man das früher erkannt hätte, hätte mir das vor allem als Kind viel Leid ersparen können. Und wenn ich früher einen Namen für meine Krankheit gehabt hätte, hätte ich es viel früher angehen können. Die Diagnose war für mich vor allem Erleichterung."

ADHS-Patient Ludwig Müller, München

Behandlung von ADHS

Viele Patienten erhalten erst spät de Diagnose. Das liegt daran, dass es zu wenig Therapeuten gibt. Eine große Rolle spielen im Alltag tatsächlich Selbsthilfegruppen.  Für Patienten mit schwerem Verlauf gibt es die Möglichkeit, sich stationär behandeln zu lassen: In der kbo-Klinik für Psychosomatik, Psychotherapie und Psychiatrie in Haar bei München ist man auf ADHS spezialisiert. Der Behandlungsansatz hier ist multimodal.

"Die drei wichtigsten Säulen sind einmal die Psychoedukation. Das heißt, der Patient sollte Bescheid wissen über ADHS. Die zweite ist die medikamentöse Behandlung. Die dritte ist die Psychotherapie, ganz besonders die Verhaltenstherapie."

PD Dr. med. Johannes Hennings, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, kbo-Klinik für Psychosomatik, Psychiatrie und Psychotherapie, Haar

Ein Baustein der so genannten Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) ist die Gruppentherapie. Hier erarbeiten Patienten gemeinsam Lösungsstrategien für den Alltag mit der Erkrankung. Ein zentraler Punkt der DBT ist die Stärkung des Selbstwertes: Denn wer wegen ADHS immer wieder aneckt oder scheitert, leidet statistisch gesehen deutlich häufiger unter Folge-Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen oder Suchtproblemen. Substanzmissbrauch spielt bei Betroffenen eine große Rolle. Unbehandelt, das zeigen Studien, haben ADHS-Betroffene eine niedrigere Lebenserwartung als Nicht-Betroffene.

Behandlung mit Sport und Medikamenten

In der Ergotherapie werden praktische Fertigkeiten für den Alltag trainiert – etwa die Feinmotorik. Auch Achtsamkeit ist wichtig: Hierzu gibt es verschiedene Angebote. Denn ADHS bedeutet Stress. Betroffene lernen hier ihre Gedanken und Emotionen besser zu verstehen und zu regulieren.

Morgens starten die Teilnehmer mit Bewegung in den Tag. Studien zeigen, dass Sport tatsächlich helfen kann, ADHS-Symptome zu lindern.

"Wichtig ist hierbei: Es sollte regelmäßig sein, mehrmals in der Woche, drei bis vier Mal. Und dann jeweils 30 bis 40 Minuten. Sowohl Ausdauersport als auch Kraftsport sind hier wirklich sehr gut."

PD Dr. med. Johannes Hennings, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, kbo-Klinik für Psychosomatik, Psychiatrie und Psychotherapie, Haar

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Behandlung mit Medikamenten: Auch Sabine Krist nimmt seit einigen Monaten Tabletten:

"Ich merke ganz deutlich, wenn ich das Medikament nehme, dass der Tag viel weniger anstrengend ist, ich mehr Energie habe für Aufgaben und für die Freizeit. Es fällt mir leichter, den Fokus zu behalten."

ADHS-Patientin Sabine Krist, München

Neben Amfetaminen wird vor allem der Wirkstoff Methylphenidat eingesetzt.

"Beide haben den Effekt, dass sie die Neurotransmitter Dopamin und Noradrenalin im synaptischen Spalt erhöhen und dadurch die Signalübertragung zwischen Nervenzellen verbessern. Dadurch wird die Kernsymptomatik bei ADHS günstig beeinflusst. Rund 70 bis 80 Prozent der Patienten sprechen auf so eine Behandlung gut an, das ist in der Medizin ein extrem hoher Wert."

PD Dr. med. Johannes Hennings, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, kbo-Klinik für Psychosomatik, Psychiatrie und Psychotherapie, Haar

Paradigmenwechsel bei dieser psychischen Erkrankung

Früher hatten Medikamente einen schlechten Ruf. In den aktuellen Leitlinien werden sie für Erwachsene aber ganz klar empfohlen.

"Das ist ein Paradigmenwechsel. Das ist die einzige psychische Erkrankung, wo als allererstes die medikamentöse Behandlung vorgeschlagen wird. Und wo sich bei Psychotherapie lange nicht der Effekt zeigt, den wir sonst bei anderen psychischen Erkrankungen sehen. Das ist für viele meiner Patienten ein absoluter Gamechanger. Viele erleben das als äußert positiv, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben etwas zu Ende bringen können, etwas schaffen, ohne zu scheitern. Das ist für viele sehr motivierend. Man muss sagen, dass das passende Medikament hier tatsächlich Biografien verändern kann."

Dr. med. Astrid Neuy-Lobkowicz, Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie, München

Auch bei Ludwig Müller haben die Medikamente einiges zum Positiven verändert. Er kann ADHS heute gut akzeptieren – quasi als Leben mit dem gewissen Etwas.

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