Bulgarien Ein Land verspielt seine Zukunft
Seit Jahren verlassen Bulgaren in Massen ihr Land, um ihr Glück im Ausland zu suchen. Mit dem Wegfall der letzten Arbeitsbeschränkungen zum 1. Januar ist die Auswanderung in andere Länder der EU noch leichter geworden.
Golden strahlt die Kuppel der Newski-Kathedrale über Bulgariens Hauptstadt. Auf den ersten Blick hat Sofia sieben Jahre nach dem EU-Beitritt einen positiven Wandel erlebt. Doch der Schein trügt, noch immer ist Bulgarien das Armenhaus der Europäischen Union.
Peter Iwanov will hier weg. Wie alle Bulgaren hat der 25-Jährige seit dem 1. Januar das Recht, überall in der EU zu arbeiten.
"Ich habe gerade mein Medizinstudium beendet. Jetzt will ich nach Deutschland und mir dort einen Job suchen."
Peter Iwanov
Die anhaltende Abwanderung der Akademiker hat für das arme Land dramatische Folgen. Wirtschaft, Wissenschaft und das Gesundheitswesen bluten immer weiter aus.
Feierlicher Abschlussball für die Medizinabsolventen der Universität Sofia Ende Januar. Sechs Jahre lang haben sie auf Staatskosten studiert. Nun wollen die meisten nichts wie weg: 80 Prozent der 200 jungen Ärzte wollen auswandern und irgendwo in Westeuropa arbeiten. Der 25-jährige Peter Iwanov hat schon mal fleißig deutsch gelernt.
Die Plattenbausiedlung "Dianabad". Zu sozialistischen Zeiten hieß sie noch "Roter Stern". Ein Ort, an dem Träume nach einem anderen Leben prächtig gedeihen.
Hier wohnt Swilen Maltschew mit seiner Mutter in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung. Der 21-Jährige hat große Pläne. Er studiert Mathematik und Maschinenbau, mit nur einem Ziel: eine Auslandskarriere, am besten als Ingenieur in der deutschen Automobilindustrie.
"In Bulgarien gibt es einfach nicht genügend Jobs, wo du Karriere machen kannst. Wir haben nicht genügend Industrie, Fabriken, in denen etwas produziert wird. Die meisten Anlagen sind uralt und arbeiten nicht mehr. Wir haben keine Autoindustrie, nur ein paar Zulieferer. Ich glaube, in Deutschland gibt es einfach viel mehr Möglichkeiten, in der Autoindustrie genau so wie in der Schwerindustrie."
Swilen Maltschew
Seit dem Zusammenbruch des Ostblocks hat Bulgariens Wirtschaft mit großen Problemen zu kämpfen. Die zentralistisch gesteuerten Produktionsstätten waren über Nacht nicht mehr wettbewerbsfähig. Notwendige Reformen wurden über Jahre verschleppt. Dann kam die große Finanz- und Wirtschaftskrise 2008. Auch wenn es seitdem langsam wieder aufwärts geht – es wird viel zu wenig investiert.
Maschinenbaustudent Swilen macht sich keine Illusionen: Zwar gibt es in Bulgarien attraktive Jobs, bei hier ansässigen internationalen Konzernen. Die aber verlangen in der Regel Qualifikationen, die man an der bulgarischen Universität gar nicht vermittelt bekommt. Swilen hat fleißig deutsch gepaukt, doch das allein reicht eben nicht.
Der Exodus der gut Gebildeten – er zieht sich längst durch alle gesellschaftlichen Bereiche. - Gesangsunterricht im Musikkonservatorium von Sofia. Auch Adelina Popova, eines der jungen bulgarischen Operntalente, arbeitet daran, die Heimat zu verlassen.
Eigentlich bräuchte die 30-Jährige täglich Gesangsunterricht. Doch die sporadischen Engagements, die sie bekommt, sind nur schlecht bezahlt. So kann sie sich den notwendigen Unterricht kaum leisten.
"Ich würde liebend gern in Bulgarien bleiben. Aber es ist nur so: die Preise sind hoch – wir sind schließlich in der EU – aber unsere Gehälter sind längst nicht so hoch wie außerhalb Bulgariens. Selbst wenn ich einen Vertrag in einem Opernhaus bekomme, reicht es nicht aus, um ein normales Leben zu finanzieren."
Adelina Popova
Der sogenannte Frauenmarkt in Sofia. Adelina Popova muss immer sparsam wirtschaften, beim Einkaufen jeden Cent zweimal umdrehen. Obst und Gemüse sind zwar nicht teuer in Bulgarien. Dafür sind die Kosten für Mobiltelefon, Strom und Heizung in den letzten Jahren extrem stark gestiegen. Und der Durchschnittsverdienst in Bulgarien liegt gerade einmal bei monatlich 350 Euro brutto. Immer zu wenig Geld in der Tasche – dieses Gefühl teilt die junge Opernsängerin mit den meisten ihrer Landsleute.
"Es gibt so einen Witz unter uns Bulgaren: Wir sind alle Zauberkünstler. Warum? Weil jeder monatliche Ausgaben von mindestens 150 Euro hat, aber nur 100 Euro verdient. Trotzdem leben wir irgendwie weiter, und deshalb sind wir Bulgaren Zauberkünstler."
Adelina Popova
An der Oper von Sofia hat Adelina noch nie gesungen. Die Kulturszene in der bulgarischen Hauptstadt ist klein. Und wer nicht die richtigen Beziehungen hat, der hat kaum eine Chance.
In keinem Land der EU prallen Vergangenheit und Gegenwart so unvermittelt aufeinander wie in Bulgarien. Das so genannte Betahaus in Sofia, Standort vieler junger bulgarischer Startup-Unternehmer.
Eine von ihnen: Rossi Mitova. Mit 17 Jahren wurde sie von ihren Eltern nach Großbritannien geschickt, um an einer Elite-Uni zu studieren. Zehn Jahre hat sie dort verbracht. Eigentlich sollte sie Brokerin werden, mit Aktien und Wertpapieren handeln. Doch dann kehrte sie zurück nach Sofia und gründete mit zwei Freunden ein Startup-Unternehmen. Ihre Idee: eine Internetplattform, die weltweit kleine Landwirte und ihre regionalen Konsumenten verbindet, ohne Zwischenhändler, ohne Konzerne.
"Wir haben anfangs nicht an eine globale Plattform gedacht. Anfangs wollten wir nur einer einzelnen Farm helfen. Dann haben wir erkannt, dass die Frage 'Wie verkaufe ich meine Produkte?' nicht nur diese Farm in Bulgarien betraf, sondern alle in der ganzen Welt. So ist unser Projekt entstanden und es kann helfen, vielleicht die gesamte Nahrungsindustrie weltweit zu demokratisieren."
Rossi Mitova
Fahrt zu einem Kunden, eine Autostunde von Sofia entfernt. Ein Pferdehof, der seit vergangenem Jahr auf ihrer Internetplattform vertreten ist. Rossi ist zurzeit ein gefeierter Star in den Medien. Ihr Projekt hat weltweit Interesse geweckt, sogar Zeitungen in den USA schreiben über sie. Gerade wurde die 27-Jährige zur bulgarischen Startup-Unternehmerin des Jahres gekürt.
Ankunft auf dem Pferdehof von Vladimir Pavlov. Er hat sich an einem einsamen Fleck in den Bergen einen Reiterhof mit gut zwei Dutzend Pferden aufgebaut. Durch die Teilnahme bei Rossis Plattform erhofft sich der Pferdehofbesitzer ein besseres Geschäft. Mehr Kontakte, mehr Kunden. Über das Internet können sich Interessierte Bilder von seinem Hof ansehen und dann direkt seinen Reitunterricht buchen.
An diesem Tag will auch Rossi eine Reitstunde nehmen. Schließlich muss man ja wissen, wie die Kunden arbeiten. Rossi, die gefeierte Jungunternehmerin, ist optimistisch. Sie glaubt an ihr Projekt, glaubt an eine Zukunft für junge, kreative Menschen in Bulgarien.
Eine kleine bulgarische Erfolgsgeschichte, repräsentativ ist sie nicht: Sollte Rossi scheitern, würde sie auch im Ausland einen Job finden. Von solchen Möglichkeiten können die meisten ihrer Landsleute nur träumen.
Über eine Million Menschen hat Bulgarien in den letzten zehn Jahren verlassen. Zurück bleiben die schlechter Gebildeten, unter ihnen etliche Roma.
Kawarna, eine Kleinstadt an der bulgarischen Schwarzmeerküste. 17.000 Menschen leben hier, gut 25 Prozent davon sind Zigeuner, wie sie sich selbst nennen. Früher war ihr Viertel ein Elendsquartier. Heute nennen sie es ironisch "Beverly Hills". Überall stehen schmucke, neu gebaute Häuser. Die meisten hier arbeiten seit 15 Jahren irgendwo in der EU. Chivko Asenov hat drei Jahre in Deutschland gejobbt, bei McDonalds in Regensburg.
"Ich will gar nicht in Deutschland wohnen, nur dort arbeiten und wieder zurück. Hier in unserer kleinen Stadt Kawarna gibt es kaum Arbeit. Und ich habe viele Bekannte in Deutschland, wir reden und telefonieren. Sie helfen mir, eine Arbeit zu finden."
Chivko Asenov
Nachdem zum 1. Januar die letzten Arbeitsbeschränkungen für Bulgaren und Rumänen weggefallen sind, will Chivko mit seinem Nachbarn Rumen so schnell wie möglich wieder in Deutschland arbeiten. Die aufgeregte Diskussion in Westeuropa über den möglichen Ansturm von Armutsmigranten kann auch Rumen nicht verstehen.
"Ich will doch auch nicht in Deutschland leben. Hier haben wir Familie, Eltern, Kinder, ein Haus. Ich sage immer: Jeder Hahn ist König auf seinem Misthaufen. Man fährt, verdient sein Geld und kehrt zurück."
Rumen
Die Lebensbedingungen von Rumen und Chivko und den meisten anderen Roma in Kawarna sind nicht repräsentativ. Vielen Zigeunern in Bulgarien geht es deutlich schlechter. Doch dieses Beispiel zeigt, was gelungene Integration bewirken kann: In Kawarna fühlen sich Roma wie Rumen und Chivko akzeptiert. Jetzt will Rumen sogar noch ein zweites Haus bauen. Für die erfolgreiche Integration der Zigeuner hat der Bürgermeister von Kavarna lange gekämpft. Jetzt kommen Kollegen aus ganz Bulgarien, um sich hier Rat zu holen.
100 Kilometer südlich von Kawarna liegt der bekannte Badeort "Sonnenstrand". Im Winter trifft man hier keine Menschenseele, im Sommer dagegen: ein El Dorado für Billigtouristen, denen der Ballermann auf Mallorca zu teuer geworden ist. Der Tourismus ist eine der wichtigsten Einnahmequellen Bulgariens: Zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden an der Schwarzmeerküste erwirtschaftet.
Auch in der angrenzenden Stadt Burgas ist fast alles auf den Massentourismus ausgerichtet. Viele arbeiten hier im Sommer in der Gastronomie. Zur Ausbildung hat die Stadt ein spezielles Tourismus-Gymnasium eingerichtet.
Das Fach "Berufsdeutsch" für die Abschlussklasse. Wo isst man was in Deutschland? Kartoffelpuffer, Pfannkuchen, Frankfurter Soße – schon bald sollen die Schüler diese Gerichte nicht nur lesen, sondern auch zubereiten können.
Gut 25 Jahre nach der Wende ist das Land ausgezehrt. Die meisten jungen Menschen richten ihre Hoffnungen in die Ferne. So wie Maschinenbaustudent Swilen Maltschev. Er glaubt nicht mehr, dass das Leben ihm in Bulgarien eine Perspektive bieten könnte. Der 21-Jährige will unbedingt nach Deutschland. Swilen ist einfach vernarrt in deutsche Autos und was liegt da näher, als von einem Job als Autoingenieur zu träumen.
Was bei dem einen noch Träume sind, ist bei dem anderen schon Realität. Für Peter Iwanov sind es die letzten Tage in Bulgarien. Schon bald wird der junge Mediziner nach Saarbrücken übersiedeln, dort, wo seine Freundin schon studiert. An diesem Tag ist Peter noch einmal in die Innenstadt gekommen, um seiner Freundin einen Gruß aus der Heimat kaufen. Seine Wahl fällt auf bulgarisches Rosenöl. Wer weiß schon, wann er das nächste Mal so etwas einkaufen kann.
Dieser Text ist eine stark gekürzte Fassung des Sendungsmanuskripts, das Sie hier unten auch vollständig abrufen können.
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RW, Montag, 03.März 2014, 07:21 Uhr
1. Schreibfehler
Berichtigung erstes Bild, dies ist die Alexander Newski Kathedrale nicht Nemski (= deutsch).