Ungarn, August 1989 Tage, die Europa veränderten
An der ungarisch-österreichischen Grenze zwischen Sopron und Mörbisch bekam der Eiserne Vorhang seinen erst Riss – am 19. August '89. Hunderte DDR-Bürger nutzten ein paneuropäische Picknick zur Flucht.
Mörbisch am Neusiedler See – Burgenländer Wein, so weit das Auge reicht. Keine 20 Kilometer entfernt:
Sopron, eine der ältesten Städte Ungarns. Ödenburg, wie sie von ihren österreichischen Nachbarn genannt wird, war immer eine Brücke nach Westen, nicht zuletzt wegen der geografischen Lage.
Hier an der ungarisch-österreichischen Grenze, zwischen Sopron und Mörbisch, schrieben ungarische Politiker Geschichte. Ein paneuropäisches Picknick zu beiden Seiten des Eisernen Vorhangs war nur der Anlass, ein Tor zwischen Ost und West zu öffnen. Es waren die Tage im August 1989, die Europa veränderten, die die schmerzliche Teilung des alten Kontinents überwanden.
Heute erinnert ein Park mit Denkmal und Schautafeln an die dramatischen Ereignisse an der ungarisch-österreichischen Grenze. Auch auf dieser Seite wussten die Grenzsoldaten nichts von dem, was Ministerpräsident Miklos Nemeth, Außenminister Gyula Horn und Innenminister Istvan Horvath von langer Hand vorbereitet hatten: den Abbau der Grenzbefestigungen. Es gab aber zahlreiche Hinweise in der ungarischen Politik, die zumindest die Grenzoffiziere hätten hellhörig werden lassen sollen: Im März 1989 war Ungarn der Genfer Flüchtlingskonvention beigetreten und im Mai wurde medienwirksam der Grenzzaun bei Nickelsdorf demontiert.
Den südlichen, ungarischen Teil des Neusiedlersees bedeckt ein breiter Schilfgürtel, hier wäre eine Flucht wohl unmöglich gewesen. Nach dem 10. September stellte sich diese Frage nicht mehr, die Grenze war und blieb offen.
Was hier am See seinen Anfang nahm, den Fall des Eisernen Vorhangs, ging einher mit gesellschaftlichen Umwälzungen in Ungarn. Das Land bewegte sich zunächst in Richtung Demokratie westlichen Zuschnitts.
Warum funktionierte das nicht? Die Grenzen trennten nicht mehr, Europa hatte sich nach Osten geöffnet. Was aus der komplizierten Vergangenheit des Landes behinderte eine kontinuierliche, demokratische Entwicklung? Parallelen in der Geschichte gibt es vielleicht mit Polen, das als Nation gleich dreimal von der europäischen Landkarte verschwand.
Ungarn wurde im 16. und 17. Jahrhundert osmanische Provinz und dann nach 1683 Bestandteil der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, faktisch hatte das Land damit seine staatliche Selbständigkeit verloren.
Möglicherweise müssen sich die Ungarn in diesen Wochen, Monaten oder auch Jahren wieder entscheiden, wohin ihr Weg gehen soll. Verbleiben in der Europäischen Union oder ein Aufbruch zu neuen Ufern?
Viele Budapester scheinen mit der Politik ihrer Regierung recht zufrieden zu sein, Umfragen haben ergeben, dass nur knapp ein Drittel von ihnen eine liberale Politik bevorzugt.
Das war vor gut zehn Jahren noch ganz anders, die wiedergewonnene Freiheit hatte damals die Hauptstädter geradezu beflügelt, der EU-Beitritt rückte immer näher.
Das Referendum zum Beitritt wurde fast mehr gefeiert als der anschließende Staatsakt. Über 83 Prozent der Ungarn wollten in die EU.
Die Zeremonie wirkte seltsam steif, militärisch. Das Hissen der ungarischen Fahne stand im Mittelpunkt – ist die Europäische Union Ungarn beigetreten? Immerhin wehte damals noch die EU-Fahne am Parlamentsgebäude, heute nicht mehr. An ihrer Stelle ist die Fahne der Szekeler, einer ungarischen Minderheit in Rumänien aufgezogen. Ist damals 2004 schon etwas schief gelaufen? Wurde im Rahmen der Osterweiterung Ungarn nicht genug gewürdigt, hatte man die spezielle ungarische Mentalität unterschätzt?
Als nach dem EU-Beitritt der erhoffte Wohlstand nicht eins zu eins eintrat, nahmen die wechselnden Regierungen Geld in die Hand, das sie nicht hatten. Der Schuldenberg wuchs – täglich.
Und der damalige Ministerpräsident Gyurscany gestand dann noch ein, dass er sein Volk "morgens, mittags und abends" belogen hatte. Das war zu viel für die Ungarn.
Der Volkszorn kochte über, Demonstrationen endeten in Straßenschlachten mit der Polizei. Das Land drohte zu zerreißen. Die drastischen Sparmaßnahmen nahmen den Ungarn jede Hoffnung auf den Wohlstand, den sie durch die EU erträumt hatten. Eigenverantwortlichkeit war weder bei den Politikern noch in der Bevölkerung eine Option.
Als grobe Ungerechtigkeit empfanden es die unteren und mittleren Einkommensschichten, dass sie nun die Zeche zahlen mussten. Sie hatten Wechsel auf eine rosige Zukunft ausgestellt und sich mit Hilfe des Staates und kreditfreudiger Banken Wohneigentum zugelegt. Mit den steigenden Preisen für Lebensmittel war es vielen nicht mehr möglich, die Kredite zu bedienen, deren Raten mit der Inflation ebenfalls gestiegen waren. Ein Teufelskreis, aus dem viele Familien nicht entrinnen konnten.
Die Stunde der Nationalisten in Ungarn schlug – mit einfachen Problemlösungen gingen sie auf Stimmenfang. Die ungarischen Garden, mittlerweile verboten und danach als neue, ungarische Garde wiedererstanden, haben Minderheiten, Liberale und die EU als Schuldige ausgemacht und gelegentlich "schlagkräftig" bekämpft.
Ein Mahnmal erregt so manchen Budapester, das gegenüber vom Sowjetdenkmal am Freiheitsplatz kürzlich in einer unwürdigen Aktion errichtet wurde: "Denkmal für die Opfer der deutschen Besatzung" Die, die vor 1944 gelitten und ihr Leben verloren haben, zählen nicht? Bis dahin war Ungarn Verbündeter von Nazi-Deutschland.
Antifaschisten, linke und liberale Oppositionsparteien, aber auch der Verband der jüdischen Gemeinden, protestierten gegen diese Art des Gedenkens, das die Mitverantwortung Ungarns am Holocaust leugnet.
Der Rechtsruck in der Politik des Landes macht vor allem den Juden zu schaffen. Ein latenter Antisemitismus begleitete die meisten ihr Leben lang.
In Ungarn gab es schon 1920 antijüdische Gesetze, als im übrigen Europa noch niemand über das "internationale Judentum" laut nachdachte – ausgenommen der Gefreite Adolf Hitler vielleicht. Der Erste Weltkrieg war gerade zwei Jahre zu Ende.
Den Holocaust im Zweiten Weltkrieg haben hier über 600.000 Menschen nicht überlebt.
In Budapest leben heute ungefähr 110.000 Juden, sie bilden die bedeutendste jüdische Gemeinde in Osteuropa.
"Nein, Viktor!" – das sagt auch das kleine Grüppchen Oppositioneller, das im Spätsommer erst hinter dem Parlament kampierte und dann auf den Freiheitplatz umgezogen ist, sie wollen nicht das Land verlassen, sie wollen nur ihre alte Verfassung zurück, demokratische Verhältnisse. Und so mancher in Ungarn hofft, dass die EU endlich auf die Einhaltung europäischer Standards drängt.
Ungarn ist – wie viele Mitgliedsstaaten – auch ein Weinland. Der sympathische Winzer Vilmos Vertes aus Paty wurde von der EU nachdrücklich unterstützt und konnte sein altes Weingut wieder in Schuss bringen. Er ist offensichtlich einer der wenigen Ungarn, der durch Eigenverantwortung und kluges Handeln Erfolg hatte.
Übrigens: Vilmos Vertes wählt Fidesz, die Partei von Viktor Orban. Warum? Weil es keine ernstzunehmende Opposition gibt.
Dieser Text ist eine stark gekürzte und redaktionell bearbeitete Fassung des vollständigen Sendungsmanuskripts, das Sie hier als Download finden:
Sendemanuskript zum Download Format: PDF Größe: 52,91 KB
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Weisensee, Sonntag, 12.Oktober 2014, 18:22 Uhr
1. Sendung vom 12.10.
Ihre Berichterstattung über "Ungarn heute" ist einseitig, nicht objektiv!!!! Wir wohnen jetzt bereits seit 14 Jahren in Ungarn und sind über die Darstellung der ungarischen Politik in der bundesdeutschen Presse - auch die der Rolle Orban`s - mehr als unangenehm berührt!!! Wir wissen nicht wer diese Sendung gesponsert hat und welche Gruppe Interesse hat Ungarn so zu diskreditieren. Ich bin gerne bereit mit Ihnen über diese Thematik zhu diskutieren!! MfG
Antwort von Barbara Mai, Montag, 13.Oktober, 13:48 Uhr
Grundlage der Europäischen Union ist eine gemeinsame, demokratische Werteordnung. Ministerpräsident Viktor Orban hat sie öffentlich zur Disposition gestellt. Das kann man gut finden oder auch nicht, es bleibt eine Tatsache. Sendungen öffentlich-rechtlicher Anstalten werden grundsätzlich nicht gesponsert.
Barbara Mai