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Die Schwachen, die Wehrlosen, die Opfer mitdenken Julian Warner - neuer Leiter des Augsburger Brechtfestivals

Das Brecht-Festival in Augsburg hat einen neuen Leiter: Julian Warner. Der Münchner Kulturanthropologe, Dramaturg, Musiker und Performance-Künstler wird die Jubiläumsausgabe zu Brechts 125. Geburtstag als Kurator gestalten.

Von: Andreas Krieger

Stand: 30.01.2023

Die Schwachen, die Wehrlosen, die Opfer mitdenken: Julian Warner - neuer Leiter des Augsburger Brechtfestivals

Ein Treffen mit Julian Warner in der Münchner Altstadt. Eines seiner vielen Talente ist es, Köpfe und Ideen zusammenzubringen und das Komplizierte ganz einfach wirken zu lassen. Studiert hat er den Menschen: an der Uni wissenschaftlich als Kulturanthropologe und in der "Favorit Bar", wo er knapp zehn Jahre Türsteher und Barkeeper war, und wo wir uns zum Gespräch verabredet haben.

Özlem Sarikaya: Du bist der neue Leiter des Brechtfestivals in Augsburg für die kommenden drei Jahre. Welche persönliche Verbindung hast du zu Bertolt Brecht?

Julian Warner: Ich hatte eine Nicht-Beziehung zu Bertolt Brecht. Wie so viele bin ich im Deutschunterricht malträtiert worden, vor allem durch die so engagierte, ich sage mal, sozialdemokratisch geprägte Deutschlehrerin. Das ging sogar so weit, dass ich in einer Schularbeit geschrieben habe: "Jeder weiß doch, dass es im Straßenverkehr um das Recht des Stärkeren geht." Ich habe es einfach nicht ausgehalten: diesen Moralismus, der da drin war. Oder wie mir Brecht nähergebracht wurde.

Özlem Sarikaya: Und wie hast du dann den Zugang gefunden?

Julian Warner: Ich habe meine Faszination für Brecht darin gefunden, ihn tatsächlich als modernen Künstler wahrzunehmen und zu sehen, wie er mit Sprache umgeht und wie er viele Formen imitiert. Es gibt ein ganz frühes Gedicht, da geht es um die Hoffnungslosigkeit. "Die Blinden sagen, es gibt Hoffnung. Ich aber sehe. Uns steht nur das Nichts gegenüber." Das waren so Momente, in denen ich mich als jemand, der 2023 lebt, wiedererkennen konnte. Wir haben den Ukraine-Krieg. Wir haben Reichsbürger. Wir haben den Klimakollaps. Und da einen Künstler wie Bertolt Brecht nicht als Erweiterung der Politik zu betrachten, sondern als eigener Raum, in dem man auf einmal reflektieren kann, in dem man auch dezidiert über Hoffnungslosigkeit sprechen kann, das war für mich irgendwie wichtig und das ist mein Zugang.

Özlem Sarikaya: Hoffnungslosigkeit klingt sehr negativ. Ist das eine Haltung oder ein Gefühl oder etwas Aktuelles?

Julian Warner: Ich betone diesen Moment der Hoffnungslosigkeit deswegen, weil ich denke, dass wir zu schnell dahineilen, eine Lösung zu suchen. Kunst soll der soziale Kitt der Gesellschaft sein, soll Partizipation und Emanzipation bringen. Das unterschreibe ich alles. Aber Kunst hat auch einen Eigenwert. Und die Kunst kann einen Raum bilden, in dem wir uns einfach noch mal anders begegnen können. Da gehören Gefühle dazu wie die der Hoffnungslosigkeit, die von einer ganzen Generation von Jugendlichen gerade massiv gespürt werden.

Julian Warner sieht Brecht nicht nur als Autor, sondern alsAnalytiker und Interpret gesellschaftlicher und sozialer Strukturen. Defizite und Möglichkeiten.

Julian Warner: Festival heißt bei uns zu fragen: Wo hört Politik auf? Wo fängt Kunst an? Aber Festival heißt eben auch integrativ zu sein. Wir nehmen die Lederhosen mit, wir nehmen aber auch die KI mit. Wir nehmen die Aleviten mit. Aber wir nehmen auch die Banater Schwaben mit. Wir nehmen die Hoffnung auf eine bessere Welt mit, aber eben auch die Hoffnungslosigkeit. So integriert man eine Stadtgesellschaft in ihrer Vielfalt, indem man sagt: Wir können uns auf Augenhöhe begegnen. Und wir als Festival sind Co-Produzenten von euch.

Özlem Sarikaya: Zugehörigkeit ist ein wichtiger Punkt in eurem Programm. Und vielen Menschen in Deutschland geht es um Zugehörigkeit, um dieses Gefühl, dazugehören zu wollen, aber nicht zu dürfen. Welche Bedeutung hat das für dich?

Julian Warner: Da fragst du den Falschen. Du sprichst mit jemandem, der hier geboren ist, sein Leben lang nur für öffentliche Institutionen gearbeitet hat und dem der deutsche Staat bis heute nicht die Staatsangehörigkeit geben möchte.

Özlem Sarikaya: Warum?

Julian Warner: Da musst du das Münchner KVR fragen. Ich hatte eine interessante Erfahrung, als ich versucht habe, mich einbürgern zu lassen. Und zwar muss man da auch seine Ethnie angeben. Und das hatte ich vergessen, weil ich dachte, es sei optional. Und ich hatte eine gute Sachbearbeiterin, die war nett und und dann hat sie mich gefragt: "Ja, was tragen wir denn ein?" Und dann habe ich zurückgefragt: "Wie meinen Sie das? Meinen Sie das kulturell oder rassisch? Weil, wenn Sie es kulturell meinen, dann würde ich gerne Rheinländer eintragen." Und dann hat sie mir erklärt: "Das ist mehr so gemeint im Sinne von wenn Sie Kurde in der Türkei sind oder wenn Sie irgendeinem Stamm in Nigeria angehören." Und dann war ihr Vorschlag: "Dann tragen wir doch einfach britisch ein." Britisch ist meine Staatsangehörigkeit. Als studierter Kulturanthropologe würde ich sagen: Britisch ist vieles, aber keine Ethnie. Aber was will ich damit sagen? Zugehörigkeit ist ein großes Konstrukt, mit dem viel Politik und viel Spaltung betrieben wird. Wenn es tatsächlich um Zugehörigkeit geht, dann kann ich sagen: Hier in dieser Bar, in der ich zehn Jahre meines Lebens verbracht habe, in unterschiedlichen Positionen, da fühle ich mich dazugehörig.

Zugehörigkeit als Politikum. Manche Politiker versuchen mit Spalten Aufmerksamkeit zu bekommen.

Özlem Sarikaya: Jetzt sprechen wir in Deutschland über Migrationshintergrund und über Verbrecher in der Silvesternacht. Und ein Mann, der Deutschland regieren wollte, Deutschlands Bundeskanzler werden wollte, Friedrich Merz, spricht in einer sehr abfälligen Art von arabischen Männern und Jugendlichen, benutzt Worte wie "kleine Paschas". Was sagt das über Deutschland?

Julian Warner: Ich möchte mich gar nicht in diesem Diskursfeld positionieren, weil ich das so toxisch finde. Weil das ist ein Diskurs, den kann man nur verlieren. Also entweder ich verteidige junge migrantische Männer und dann verharmlose ich potenziell Gewalt gegenüber Einsatzkräften oder verharmlose sexuelle Gewalt gegenüber Frauen. Oder ich mache rassistische Zuschreibungen gegenüber jungen Männern. Jahr für Jahr müssen wir da durch. Man hat schon keinen Bock mehr auf den Januar, wenn das dann wieder kommt. Und hier zeigt sich ein Reflex der Ausgrenzung. Keiner von diesen Sprechern stellt sich hin und sagt: "Wir Deutsche haben ein Problem." Sondern die Aktion dient der Ausgrenzung. Und damit wiederholen die im Grunde dieses rechte Narrativ, dass es die echten Deutschen gibt. Und dann noch irgendwelche Pass-Deutschen, die, solange sie gut mitmachen und unsichtbar sind, dazugehören. Die konservativen Kräfte in diesem Land sind nicht in der Lage, sich hinzustellen und zu sagen: "Das waren Deutsche, die da Scheiße gebaut haben, und wir haben ein Problem und darüber sollten wir sprechen. Und wir alle in der Gesellschaft haben eine Verantwortung, dafür zu sorgen, dass es nicht dazu kommt." Wenn wir so den Diskurs führen würden, dann wäre das etwas komplett anderes, als die ganze Zeit zu spalten in diesem Diskurs.

Wer Minderheiten unter Generalverdacht stellt, verletzt die Würde unzähliger Unbeteiligter, die genauso entsetzt sind über Straftaten.

Julian Warner: Warum brauchen wir die Richtigstellung? Das ist auch etwas, was ich bei mir selbst und bei anderen sehe. Frantz Fanon spricht davon, dass das koloniale Subjekt immer möchte, dass sein Spiegelbild wieder funktioniert, dass es nicht mehr gebrochen ist, dass wir Bürger sind. Das stört mich ganz oft auch in diesen Diskursen, dass von postmigrantischer Seite dann auch schnell so ein Reflex kommt: "Nein, wir sind doch eine Bereicherung!" Ich verabscheue diese Seite an mir, dass ich das eigentlich begehre, dass Friedrich Merz sagt: "Nee, Julian, ist okay." Oder,  dass das KVR in München sagt: "Ach, Julian, das ist doch eigentlich ein Unsinn, dass wir dir nicht die deutsche Staatsbürgerschaft geben.

Gesellschaft denken heißt: die Schwachen, die Wehrlosen, die Opfer mitdenken.

Özlem Sarikaya: Das Brechtfestival endet am letzten Tag mit einem Punkt: "Say Their Names". Da geht es darum, dass die Namen der Opfer des rassistischen Anschlags von Hanau genannt werden.

Julian Warner: Wir fangen mit Brechts Geburtstag am 10. Februar an. Und am 19. Februar hören wir auf mit einer Gedenkveranstaltung, einem kollektiven Erinnern, ausgehend vom rassistischen Anschlag in Hanau. Aber auch darüber hinaus richten wir den Blick hier nach Bayern und erinnern an das Olympia-Attentat. Man startet mit einem großen Festakt und man endet mit einem Fokus auf rassistischer Gewalt und den Opfern, den Opferperspektiven. Das ist ein Versuch, damit umzugehen. Brecht geht es darum, zu zeigen, wie ein einzelner Mensch zermalmt wird von der Geschichte und wie ein einzelner Mensch Entscheidungen treffen kann. Aber die Geschichte rollt über einen hinweg. Wo ist der Raum, in dem wir etwas anderes sein können? Deswegen arbeite ich in der Kunst, weil ich daran glaube, dass die Kunst so einen Moment aufmachen kann, in dem wir jemand anderes werden und in dem wir eine andere Erfahrung machen können.

Zugehörigkeit schaffen. Das ist auch der Auftrag, an der Gesellschaft mitzuarbeiten. Genau das macht Julian Warner. Er ist ein "Zusammenbringer". Dieser Reboot beim Brechtfestival wird spannend.

Weiterführende Informationen

Brechtfestival Augsburg
10. bis 19. Februar 2023


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