80 Jahre nach der Deportation der Sinti nach Auschwitz Münchner Sinti und die Münchner Polizei
Die Münchner Polizei, das Münchner Beratungs- und Kulturzentrum für Sinti und Roma "Madhouse" und die Fachstelle für Demokratie der Landeshauptstadt München haben eine historische Präsentation in Auftrag gegeben, die die Deportation von Münchner Sinti nach Auschwitz durch die Polizei aufarbeiten soll.
Am 8. März 1943 wurden Münchner Sinti von der Polizei verhaftet, fünf Tage im Polizeipräsidium in der Ettstraße festgehalten und anschließend nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Ein Verbrechen, für das sich die Münchner Polizei lange nicht entschuldigt hat und das bis heute viel zu wenig bekannt ist. Heute arbeitet das Münchner Polizeipräsidium eng mit dem Münchner Beratungs- und Kulturzentrum für Sinti und Roma, "Madhouse", zusammen und hat gemeinsam mit der Fachstelle für Demokratie der Stadt München eine historische Präsentation in Auftrag gegeben. Ein Gespräch mit der Zeitzeugin Ramona Sendlinger und dem Madhouse-Leiter Alexander Diepold über Traumata als Nachwirkungen der Morde an Sinti und Roma in der NS-Zeit und Ressentiments, denen sie bis heute ausgesetzt sind.
Ramona Sendlinger, Sintizza. Ihre Vorfahren, darunter beide Großmütter und deren Kinder, wurden im KZ umgebracht.
Özlem Sarikaya: Ihre Familie war damals von der Internierung durch die Münchner Polizei größtenteils betroffen. Sie haben viele Familienmitglieder in Auschwitz verloren. Wie wurde über das, was passiert ist, in Ihrer Familie gesprochen?
Ramona Sendlinger: Mein Papa hat spät angefangen, aber dann jeden Tag, da weiß ich alles, jedes Wort und jede Tat, was da passiert ist. Von A bis Z. Meine Mutter hat nur selten, fast gar nicht mit uns Kindern darüber gesprochen, weil das Herz meiner Mutter gebrochen ist. Der Doktor hat auch gesagt: "Sie erstickt an ihrer Seele."
Özlem Sarikaya: Was ist damals passiert? Am 8. März 1943.
Ramona Sendlinger: Mein Opa, die waren oft in München und sind auf dem Platz gestanden mit ihrem großen Wohnwagen. Das muss auch am Waldrand gewesen sein. Dann hat es geklopft an die Tür. Früh ist die Polizei vor die Tür gestanden und hat gesagt, sie müssen alle mitkommen. Und da wollte meine Mutter einen kleinen Hund mitnehmen und sie haben gesagt: "Nein, der Hund darf ruhig da bleiben. Ihr kommt ja gleich wieder." Dann haben sie sie mitgenommen auf ihren Lastautos. Und sie sind nicht mehr zurückgekommen.
Özlem Sarikaya: Von München aus sind sie nach Auschwitz deportiert worden.
Ramona Sendlinger: Und in Auschwitz ist meine Oma mit neun Kindern ermordet worden, bestialisch. Die Oma, die Mutter von meinem Vater, war 37 Jahre alt. Und die Mutter meiner Mutter war auch erst 37. Und sie waren in Auschwitz. Die Kinder wollten arbeiten. Und dann wollte meine Mutter reingehen. Dann hat mein Vater gesagt: "Geh nicht rein! Deine Mutter liegt da tot." Und da ist meine Mutter zusammengebrochen und von dem Tag an war meine Mutter immer bei der Familie meines Vaters. Mama hat gesagt, dass die Soldaten sie festgehalten und ihre Schwestern lebendig ins Feuer gestoßen haben.
Özlem Sarikaya: Es sind Bilder, die man sich nicht vorstellen kann.
Ramona Sendlinger: Ich kenne das schon so lange. Aber wenn ich allein bin, muss ich immer weinen. Ich komme über so viel Gemeinheiten nicht hinweg. Ich kann es nicht verkraften. Ich bin schon 60 Jahre in psychischer Behandlung. Ich komme mir vor, als ob ich selber in Auschwitz gewesen wäre. Ich habe die Bilder an die Wand gesehen. Immer habe ich mit den Toten gesprochen. Als Kind hat mich meine Oma von der Wand angelacht. Ich dachte, die lachen mich an. Das war wirklich schlimm. Ich bin heute noch in Behandlung. Ich nehme Medikamente, weil ich darüber nicht hinwegkomme.
Özlem Sarikaya: Sie sagen, Ihre Mutter hat darüber nicht reden wollen und Ihr Vater hat dauernd darüber geredet. Ihre Mutter hat das Bedürfnis gehabt, das zu erzählen. Aber sie hat niemals mit ihnen darüber gesprochen, sondern mit dritten Personen.
Ramona Sendlinger: Wenn ich mit meiner Mutter hausieren ging, dann hat sie das die Leute erzählt, weil sie dachte, ich höre nicht zu. Und dann habe ich gedacht: Was erzählt die Mama da? Weil ich war noch klein. Und wie wir draußen waren, habe ich ihre Hand genommen und gesagt: "Mama. Stimmt es?" Ich habe geweint. Sie hat gesagt, sie kann nicht darüber reden. Der Doktor hat uns gesagt, meine Mutter erstickt an ihrer Seele. Und sie ist an ihrer Seele erstickt. Mit 71 Jahren. Mein Papa ist 95 geworden, weil er darüber reden konnte.
Özlem Sarikaya: Ihr Großvater hat damals das Konzentrationslager Dachau mit aufbauen müssen.
Ramona Sendlinger: Das war der Vater von meinem Vater, der ist schon 1933 in ein Arbeitslager gekommen. Und dann haben sie erfahren, dass mein Opa Sinto ist. Aber mein Opa war blauäugig und blond. Und dann haben sie meinen Opa nach München ins Gefängnis. Und vom Gefängnis aus musste er mit Dachau aufbauen.
Özlem Sarikaya: Die haben ihn erst als Soldat einberufen, weil er blond und blauäugig war und als arisch galt und so ausgesehen hat.
Ramona Sendlinger: Der Opa hat schon bei Kaiser Wilhelm gedient. Er hat eine Uhr von Kaiser Wilhelm gekriegt und der hat zu meinem Opa gesagt: "Langt mir nicht meine Zigeuner an." Weil mein Opa war sein bester Untergebener. Der hat ihm eine Uhr geschenkt.
Özlem Sarikaya: Und dann als sie erfahren, er ist ein Sinto, wird er dann nach Dachau gebracht, um dort das künftige Konzentrationslager aufzubauen.
Ramona Sendlinger: Es war so schlimm. Als das aus war, haben die Kinder neun Jahre ihren Papa gesucht, unseren Opa. Und mein Opa hat neun Jahre seine Kinder gesucht. Die haben immer die Toten gesucht und dann haben sie meinen Opa kennengelernt, gesehen auf dem Bahnhof. Dann hat die Tante gesagt: "Ne, das ist nicht unser Vater, der war viel größer." Und dann hat mein Papa ihn doch erkannt. Ein bisschen. Und meine Mutter hat gesagt: "Das ist nicht dein Vater. Das ist ein Deutscher. Der ist blond und blauäugig." Mein Liebling war das. Mein Opa. Dann haben sie sich wiedergefunden. Und die ganzen Jahre haben sie ihn gesucht. Und dann hat mein Opa gefragt: "Wo ist die Mama und wo sind die Kinder?" Und dann hat der Vater gesagt: "Die sind alle tot." Da ist mein Opa zusammengebrochen.
Özlem Sarikaya: Es sind schlimmste und unvorstellbare Dinge passiert. Trotz des Leids mussten Sinti und Roma dann tatsächlich dafür kämpfen, dass sie auch als Opfer des Holocausts anerkannt werden."
Alexander Diepold: Im Nationalsozialismus hat man versucht, sie zu kriminalisieren. Wir hatten keine Interessensvertretung und es gab BGH-Urteile, damals 1956 beispielsweise, die von vornherein aberkannt haben, dass Sinti und Roma Leistungen und Entschädigungen bekommen. Von diesem Urteil ist erst 2016 Abstand genommen worden. Allein dieser Prozess und der Kampf, den hier dann der Zentralrat Romani Rose geführt hat, um anerkannt zu werden als gleichwertige Opfer, dass das aus rassistischen Gründen passiert ist, ist ja über die Bürgerrechtsbewegung dann gelaufen und das war eine unglaubliche Arbeit, die er da geliefert hat.
Alexander Diepold hat "Madhouse" gegründet, eine Beratungsstelle für Sinti und Roma in München. Auch seine Vorfahren wurden nach Auschwitz deportiert.
Alexander Diepold: Wir hatten mit den Menschen zu tun, die in Konzentrationslagern waren, die überlebt haben und jetzt Menschen mit transgenerativen Traumata, die sich also fortsetzen über die Kinder und Kindeskinder. Und hier in München speziell gab es keinen Gedenktag dafür. Vor 2012 gab es Tafeln am Platz der Opfer des Nationalsozialismus. Da waren aber Sinti und Roma nicht erwähnt. Und wir haben uns da stark macht. Warum wird diese Minderheit, diese Volksgruppe vergessen? Da sind immerhin mindestens eine halbe Million Menschen zum Opfer gefallen.
Der Platz der Opfer des Nationalsozialismus in München heute. Außerhalb gibt es nun eine Gedenktafel. Aber eben: außerhalb.
Alexander Diepold: Und jetzt haben wir ein bisschen den Vorteil, dass zwar allen Opfer des Nationalsozialismus gedacht wird, aber wir noch zusätzlich eine Tafel extra auf Sinti und Roma hinweist. Aber wenn man Platz ansieht, von der Platte aus, dann kann man eigentlich wieder die Ausgrenzung sehen. Denn mit der Platte waren die Sinti erst mal draußen von dem Platz.
Im Auftrag von Polizei, Stadt und Madhouse erstellt die Künstlerin Gaby dos Santos eine historische Präsentation, mit der unter anderem die Verantwortung der Polizei bei der Deportation aufgearbeitet wird.
Alexander Diepold: Diese 80 Jahre sind jetzt zwar ein besonderes Gedenken, aber es gab vor drei Jahren eine Untersuchung zur Hasskriminalität. Und das ist im Prinzip der Einstieg gewesen, um mit der Polizei noch mal ins Gespräch zu kommen. Denn da sind auch Sinti-Familien mit interviewt worden und man hat festgestellt, dass die am stärksten von Rassismus betroffene Gruppe die der Sinti und Roma ist. Und das hat den Polizeipräsidenten sehr erschrocken. Er sagte: "Das kann nicht sein." Und wir sind gleichzeitig diejenigen, die keine Anzeige stellen. Und ich habe natürlich gefragt: "Glauben Sie denn wirklich, dass jemand von unseren Leuten noch eine Anzeige stellt, wenn an der Wohnungstür ein Hakenkreuz ist und drunter steht: 'Ihr seid vergessen worden zu vergasen.' Und die Polizei sagt uns, ihr braucht gar nicht anzeigen, es wird ohnehin eingestellt."
Özlem Sarikaya: Das heißt, auch heute noch ist das Vertrauen oder das Verhältnis zwischen der Sinti-Roma-Gemeinschaft und der Polizei nicht tatsächlich ein vertrauenswürdiges, weil Sie das Gefühl haben, nicht ernstgenommen zu werden von der Polizei?
Alexander Diepold: Wir glauben, dass mit dem Begriff, dem Z-Begriff, noch immer sehr viel und Stereotype vorhanden sind, auch bei den Beamten. Wir glauben, es muss unbedingt in die Ausbildung der Polizeibeamten mit rein. Es muss klar sein, dass es hier eine Historie gibt, die also menschenverachtend gearbeitet hat. Es muss klar sein: Hier war Himmler sogar Polizeipräsident. Und Himmler hat diese ganzen Erlasse gestellt. Viele kommen zu uns und sagen, sie haben das Gefühl, da ist eine stärkere Verfolgung da. Wir haben Gewerbetreibende, bei denen wir das Gefühl haben, dass die Polizei sie extrem beobachtet. Wir haben einen Campingplatz, den wir jetzt in den Betrieb genommen haben, der als Durchfahrerplatz der Sinti und Roma galt und hatten auch da das Gefühl, dass die Polizei sehr oft an den Platz kommt, um sich da umzusehen. Wir sind dann ins Gespräch gegangen mit dem Polizeibeamten. Das hat dann auch aufgehört. Aber es bedarf unglaublich viel Dialog. Eine Entschuldigung hat erst dann Wert, wenn erkennbar wird, dass man eine gewisse Reue mitbringt, dass erkennbar wird, dass man mit uns spricht, dass man uns als gleichwertige Menschen anerkennt, dass, wenn irgendwelche Probleme auftauchen, jetzt eben nicht sofort der Z-Hammer kommt, sondern dass die Polizei sagt: Hier sind Menschen, die mögen den Hintergrund haben, aber wir behandeln sie erst mal gleich. Wir wollen keine Besserbehandlung. Aber wir wollen eine Gleichbehandlung. Inklusion heißt wirklich gleichberechtigte Teilhabe für alle.
Präsentation
"Nächster Halt Auschwitz"
Uraufführung am 21.03.2023
Festsaal Altes Rathaus, München
Rund 80 Prozent der Großeltern, Onkel und Tanten von Ramona Sendlinger wurden in KZs umgebracht. Bis heute ist sie Ressentiments ausgesetzt. Sie will nicht besser behandelt werden, sondern nur gleich.