Feyza Immer irgendwie anders
Feyza lebt in drei Welten – oder besser gesagt zwischen ihnen. Denn so richtig gehört sie bei keiner dazu: Man gab ihr sowohl in der türkischen, in der deutschen und auch in der gehörlosen Gesellschaft immer wieder das Gefühl, "anders" zu sein. Wie hat die junge türkisch-deutsche fast taube Frau es geschafft, sich nicht nur zu behaupten und ihre Identität zu finden, sondern sogar zum Vorbild für andere zu werden?
Feyza Cicek ist im Mainzer Stadtteil Weisenau aufgewachsen. Hier war ihre "türkische Welt", wie sie sagt. Sie hat eine starke türkische Identität von ihrer Familie mitbekommen, die sie liebt und auch lebt.
Hörgeschädigt in einem "fremden" Land
Doch es gab auch von Anfang an eine andere Komponente in ihrem Leben, die ebenfalls bestimmend war: Acht Monate nach Feyzas Geburt bekommt sie die Diagnose, dass sie schwerhörig ist, links hochgradig bis an Taubheit grenzend und auf dem rechten Ohr völlig taub. Damit ist sie in ihrer Familie nicht allein, denn Feyzas älterer Bruder ist ebenfalls schwerhörig. Für die Eltern, die als Gastarbeiter nach Deutschland kamen, war das keine leichte Situation mit zwei hörbehinderten Kindern in einem fremden Land: Sie sprachen nicht gut Deutsch, mussten aber Arztbesuche absolvieren und auch sonst viele Termine wegen der Kinder wahrnehmen. Glücklicherweise bekamen sie dabei Unterstützung.
Stark in die türkische Kultur verwurzelt
Und auch die Kinder konnten zu Beginn nicht gut kommunizieren. "Bis ich in den Kindergarten kam, habe ich ausschließlich Türkisch gesprochen“" erinnert sich Feyza. Sie besuchte häufig die Großeltern in der Türkei, war regelmäßig in der Moschee – und in der türkischen Kultur stark verwurzelt. "Die türkische Kultur ist wärmer und man hat einen stärkeren Zusammenhalt", findet sie bis heute. Dennoch gab es für das Mädchen Feyza dort Probleme – war sie doch meistens die einzige Gehörlose, beispielsweise im Koranunterricht. "Da habe ich gemerkt, dass ich anders bin als die anderen."
Gefördert in Kindergarten und Schule
Als sie dann einen deutschen Kindergarten für Hörende besuchte, bekam Feyza sonderpädagogische Frühförderung, lernte so Deutsch. Diese Unterstützung hat sie in bester Erinnerung - und dennoch merkte das türkischstämmige Mädchen auch hier, dass sie anders ist.
Mit sechs Jahren kam sie in ein Internat – dorthin wo bereits ihr Bruder war: in die Augustin-Violet-Schule in Frankenthal. "In dieser Zeit habe ich gemerkt, dass wir beide anders waren als unsere hörenden Freunde in Mainz, denn die konnten ja dortbleiben. Mein Bruder und ich mussten ins Internat, weil wir ja auf der Förderschule waren." Trotzdem hat sie diese Zeit in der Schwerhörigen-Klasse in bester Erinnerung. Damals hat sich ihr Interesse an Gebärdensprache entwickelt - obwohl im Unterricht wenig gebärdet wurde. Auf dem Pausenhof dafür umso mehr. Bis dahin hatte Feyza praktisch nur gesprochen, konnte keine Gebärden. Mit ihrer Schulfreundin und Zimmerpartnerin Ngoc Phung Dang erfährt sie diese andere Welt.
In der Schulzeit entdeckte Feyza noch weitere Talente: Sie war eine gute Theater-Schauspielerin und sehr geschickt im Basketball-Spiel. Und trotzdem: Auch hier im Internat fühlte sie sich nicht richtig zugehörig. Es waren die Gehörlosen, die hier eine eingeschworene Gemeinschaft bildeten. Und da passte sie nicht richtig dazu. "Ich kam aus der schwerhörigen Welt. Aber es gibt ja eigentlich keine schwerhörige Welt. Bei Gehörlosen ist das anders: Sie haben diese eigene Welt, eine eigene Kultur und eine eigene Sprache. Das ist schön! Aber in der Welt der Schwerhörigen gibt es diese eigene Sprache und eigene Kultur nicht", erinnert sie sich.
Ein harter Weg zum Abitur
Nach der Schule in Frankenthal beschloss Feyza Abitur zu machen und wechselte deshalb an die Schule in Stegen. Die Zeit bis zum Abitur war hart für sie: der Wechsel in ein anderes Bundesland, keine Sonderschullehrer mehr, ein viel schnelleres Tempo im Unterricht. Das hieß: Viel nachlernen und trotzdem auch mal schlechte Noten kassieren, für die sich Feyza geschämt hat. Mit 18 Jahren wollte sie sich stärker an hörenden Menschen orientieren und hat sich ein CI implantieren lassen - sie dachte, das würde ihr helfen, auch bei den Noten. Doch das tat es nicht nicht.
Heute kann sie eines ihrer Hauptprobleme klar benennen: "Mir hat ein Vorbild gefehlt", sagt Feyza. Sie hatte zwar viele Freunde, die einen Migrationshintergrund hatten - aber keine Behinderung. Und sie hatte viele hörgeschädigte Freunde - aber ohne Migrationshintergrund. Feyza wusste nicht, wohin sie gehörte.
Studium öffnete Feyza die Augen
Besser wurde das erst, als sie mit dem Studium begann - in Heidelberg, an der Pädagogischen Hochschule. Auf der Suche nach dem passenden Studium stieß sie auf "Lehramt in Sonderpädagogik", in dem Studierende besonders gesucht waren. Für Feyza ein Glücksgriff. "Hier habe ich mich auch das erste Mal bewusst mit meiner Identität auseinander gesetzt." Zu Beginn war Feyza sehr unsicher, sogar verschämt aufgrund ihrer Schwerhörigkeit. Doch sie erfuhr viel Zuspruch und Unterstützung, was die junge Frau ermutigte und schließlich selbstbewusster machte.
Sie orientierte sich nicht mehr so stark an der Welt der Hörenden. "Im Studium der Sonderpädagogik habe ich mich auch intensiv mit meiner eigenen Hörschädigung auseinandergesetzt", erinnert sie sich. "Davor hatte ich davon überhaupt keine Ahnung. Ich wusste, dass ich schwerhörig bin, aber was das bedeutet, das wusste ich nicht. Das war ein richtiges Aha-Erlebnis. Außerdem habe ich die Gehörlosenkultur kennengelernt, und das hat mich zurück gebracht zu meinen Anfängen in der Welt der Gehörlosen. Ich habe ganz viel Stärkung und Ermutigung erfahren."
Infos zur Pädagogischen Hochschule Heidelberg
In der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg gibt es ein Fach "Hörgeschädigtenpädagogik". Hier werden Lehrer und Lehrerinnen ausgebildet, die später an Gehörlosen- und Schwerhörigenschulen arbeiten. Manche arbeiten auch in der Inklusion, begleiten also gehörlose oder schwerhörige Kinder. Im Studium geht es um viele verschiedene Themen: eher lautsprach-orientiert geht es um Hörgeräte-Technik und Übertragungstechnik, – also wie man das Hören verbessern kann, – bis hin zu bilingualem Unterricht und Gebärdensprache. Etwa 400 Studierende belegen das Fach Hörgeschädigtenpädagogik. Davon sind 20 selbst schwerhörig oder gehörlos.
"Aus meiner Sicht sind die Studierenden mit Hörbehinderung hier eine sehr heterogene Gruppe: Einige tragen CI, andere nicht, dafür Hörgerät. Einige bringen bereits DGS mit, andere lernen sie hier im Studium. Die Identitäten sind nicht mehr so festgezurrt: Das sind keine «reinen Gehörlosen» oder «reinen Schwerhörigen». Die Übergänge sind eher fließend. Auch in der Kommunikation in DGS sind die Studierenden flexibler. Sie passen sich der Situation in der jeweiligen Gruppe an: unter Schwerhörigen und Gehörlosen nutzen sie DGS oder LBG, mit Hörenden die Lautsprache - soweit möglich. Vielleicht kann man sagen, dass die Situation der jungen Leute mit Hörbehinderung eher durchlässiger geworden ist. Sie verharren weniger in ihren Gruppen. Das ist nicht schlecht."
Prof. Dr. Johannes Hennies, Institut für Sonderpädagogik der Pädagogischen Hochschule Heidelberg
Als Sonderpädagogin ein Vorbild für viele
2018 hat Feyza ihren Abschluss gemacht und danach mit dem Referendariat begonnen. Heute arbeitet sie als Sonderschullehrerin an der Schule beim Jakobsweg der Paulinenpflege Winnenden - eine berufliche Schule, ganz speziell für junge Menschen mit einer Hör- oder Sprachbehinderung. Hier können junge Menschen den Hauptschulabschluss machen und weiter über den Mittleren Bildungsabschluss sogar bis zum Abitur kommen.
Ein ganz besonderer Zweig ist das "Vorqualifizierungsjahr Arbeit und Beruf" speziell für junge Menschen mit Flüchtlingshintergrund. Das heißt: Diese jungen Menschen – gehörlose oder auch stark schwerhörige – kommen ohne Deutschkenntnisse nach Deutschland und vielleicht auch ohne Gebärdenkenntnisse. Sie dürfen an der Schule über mehrere Jahre "erst einmal ankommen", wie es Schulleiter Friedemann Bär nennt, "und dann mit der Zeit auch die Prüfung zum Hauptschulabschluss ablegen."
In dieser Klasse unterrichtet Feyza. Und sie passt dort sehr gut hin. Denn: Es ist auch ihr Erfahrungsweg, den die jungen Menschen hier gehen. Hier ist sie Vorbild. Und sie ist einfühlsam und führt ihr Schülerinnen und Schüler ans Ziel.
Ziel erreicht
Und auch Feyza ist an ihrem Ziel angelangt. Mit der Zeit ist sie deutlich selbstbewusster geworden und hat gemerkt, dass es alleine ihre Entscheidung ist, zu sagen, wer sie ist. Sie lebt in allen drei Welten – und gehört eben zu jeder. "Der Weg war lang und es war nicht immer einfach. Ich musste viel kämpfen und aushalten, das stimmt schon. Aber jetzt, wo ich es geschafft habe und Lehrerin bin, weiß ich auch, wer ich bin!"