Ehemalige Schüler berichten "Die Gehörlosenschule war mein Zuhause..."
Für die meisten Gehörlosen bedeutete früher Schule gleich Heim. Denn Gehörlosenschulen gab es nicht in jeder Stadt und so mussten Gehörlose sehr häufig in jungen Jahren weg von ihren Eltern und weg aus ihrem Umfeld. In Sehen statt Hören erzählen einige, wie sie die Zeit in der Gehörlosenschule erlebt haben.
Franz Richter wurde taub geboren. Auch seine Schwester ist gehörlos. Für die Eltern war das ein schwerer Schlag – bis sie von einer Klosterschule in Zell erfuhren, die gehörlose Kinder ab dem Kindergartenalter aufnimmt.
Mit dreieinhalb Jahren kam Franz dorthin. Zu früh, wie er heute findet. Und dass, obwohl seine Schwester bereits dort war. Trotz mancher Schwierigkeit wurde das Internat zu seiner Heimat, das eigentliche Elternhaus wurde ihm fremder.
"Als ich in Zell abgegeben werden sollte, standen wir vor einer Nonne und ich hielt mich am Bein meines Vaters fest. Ich muss wohl schon etwas gespürt haben. […]. Die Nonne muss mich gezwickt haben und gleichzeitig zu meinen Eltern gesagt haben, dass sie schnell verschwinden sollen. […]. Die Zeit verging und es wurde Weihnachten, als ich zum ersten Mal von meinem Vater wieder abgeholt werden sollte. Er kam, aber ich erkannte meinen Vater nicht mehr. Ich hielt mich am Bein der Nonne fest und schrie. […] Als mir das erzählt wurde, dachte ich nur - wie schlimm."
Franz Richter
Klaus Stumpfs Mutter erfuhr von der Gehörlosigkeit ihres Sohnes erst, als dieser eineinhalb Jahre alt war. Fünf lange Jahre lang wurde mit ihm praktisch nicht kommuniziert – bis er nach dem zweiten Weltkrieg in die Gehörlosenschule in Leipzig kam. Und dort eröffnete sich dem fünfjährigen Buben eine völlig neue Welt.
"Im Heim hatte ich Unterhaltung, habe Dummheiten gemacht, Fußball gespielt. Da war alles da. Zu Hause gab es das nicht. Wenn Hörende miteinander gesprochen und ihre Münder schnell bewegt haben, war ich ausgeschlossen. Es war wie ständig auf Barrieren stoßen. An der Gehörlosenschule hatte ich alles."
Klaus Stumpf
Sandra Reiß ist die Tochter gehörloser Eltern – und wurde ebenfalls taub geboren. Kurz bevor ihre Kindergartenzeit beginnen sollte, wurde die naheliegende Gehörlosenschule in Bayreuth geschlossen. Sie musste nach Bamberg ausweichen, blieb dort die ganze Woche über. Für das kleine Mädchen eine harte Erfahrung.
Auch, weil sie sich als Tochter gehörloser Eltern besonders schwer tat, die Lautsprache zu lernen. Schließlich zog sie dann weiter nach München, wo es damals die einzige Realschule für Gehörlose bayernweit gab. Doch der Besuch der höheren Schule bedeutete für die damals Zwölfjährige einen erneuten, sehr schweren Abschied von den Eltern…
Ein großes Problem für die gehörlosen Schüler war damals jedoch, dass der Unterricht nicht in Gebärdensprache, sondern in Lautsprache abgehalten wurde. Gerade das Fach „Artikulation“ war sowohl für die Schüler als auch die Lehrer eine Qual. Der ehemalige Schuldirektor aus München Ferdinand Sattler, die ehemalige Lehrerin Beatrix Baartman sowie die ehemalige Erzieherin Helga Straub erinnern sich an diese Zeit und wie sich die Gebärdensprache nach und nach durchsetzte.
"Für mich war es dann so, je mehr Wissen man vermitteln wollte, desto mehr kam man zum Überlegen, kann ich das mit der reinen Lautsprachmethode machen? Ist das möglich, alles über Ablesen, Wiederholen usw. den Gehörlosen beizubringen? Oder brauche ich irgendein anderes Mittel dazu, um schneller, sicherer, deutlicher diese Inhalte hinüberzubringen?"
Ferdinand Sattler