BR Fernsehen - Sehen statt Hören


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Jugendfestival 5 Volles gebärdensprachliches Programm

Nach 2019 konnte in diesem Jahr endlich ein Jugendfestival stattfinden: Das insgesamt fünfte, diesmal wieder in Hamburg. Visuell ansprechend schon im Vorfeld: Das moderne und komfortable Design der Homepage mit allen Infos rund um das Festival. Welche Themen taube junge Menschen interessieren? Sehen statt Hören war die zwei Tage mit vor Ort.

Stand: 12.10.2022

Viele Vorträge zu den unterschiedlichsten Themen, alle speziell für Kinder und Jugendliche zugeschnitten – das ist das Jugendfestival. Über 2.000 Besucherinnen und Besucher wurden in diesem Jahr bereits im Vorfeld insgesamt erwartet - und auch Erwachsene waren willkommen. Das Programm ist vielfältig: Jeweils vier - am zweiten Tag sogar fünf - Vorträge finden parallel statt, da müssen sich die jungen Menschen entscheiden – und ein Thema ist interessanter als das andere. Außerdem wollen sich alle nach so langer Zeit auch endlich wieder unterhalten. Da heißt es eine gute Wahl zu treffen.

Thema Mikroaggressionen

Simon Kollien mit seiner Tocher Elaine

Ein sehr spannendes Thema der Veranstaltung: Mikroaggressionen. Simon Kollien beschäftigt sich am Institut für Deutsche Gebärdensprache der Universität Hamburg im Fachbereich Deaf Studies mit psychologischen Aspekten und dem Thema Diskriminierung – und dabei auch mit dem Thema Mikroaggressionen. Auch ein Thema für die Jugend, findet seine Tochter Elaine – und startete mit dem Vater ein gemeinsames Projekt für das Jugendfestival.

"Zum Beispiel, wenn am Bahnhof nur eine Durchsage zum Gleiswechsel gemacht wird, die taube Menschen nicht mitbekommen können. Gesellschaftliche Strukturen, die für hörbehinderte Menschen Barrieren erzeugen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Alltagssituationen, in denen sich gehörlose Menschen angegriffen oder vor den Kopf gestoßen fühlen. Das nennt man personale oder individuelle Diskriminierung und da setzt das Konzept der Mikroaggressionen an. Ein sehr spannendes Thema für unsere Community."

Simon Kollien

Gehörlose Menschen sind in ihrem Alltag oft mit Mikroaggressionen konfrontiert. Das ist schlecht für die psychische Gesundheit und kann zu Depressionen führen. Um sich davor schützen zu können, muss man erst das Konzept und die verschiedenen Diskriminierungsformen kennen und verstehen. Dann ist es leichter im persönlichen Umfeld, aber auch auf politischer Ebene zu argumentieren, um eine grundsätzliche Verbesserung herbeizuführen.

Doch was sind das für Alltagssituationen? Vieles begründet sich auf Vorurteilen und speziellen Vorstellungen, die die große Gruppe der Hörenden gegenüber der kleinen Gruppe der Gehörlosen hat.

Einige Beispiele für Vorurteile  

  • Es gibt Hörende, die finden, eine gebärdende Person wirkt aggressiv. Die gebärdende Person empfindet das nicht so, passt sich aber an und versucht vorsichtig und kleiner zu gebärden, um nicht falsch rüberzukommen.
  • Andere Hörende finden, taube Menschen sind allgemein einfach nur "lieb und süß".
  • Es gibt Hörende, die sich sicher sind, dass Gehörlose geistig eingeschränkt sind, da sie ja ohne Sprache aufgewachsen seien und deshalb nur sehr wenig wissen. Gehörlose sind für sie bemitleidenswert und benötigen Förderung.
  • Manche Hörende sagen, dass DGS und Deutsch nicht gleichwertig sind. Deutsch wäre besser - weil es beispielsweise in der DGS keine Ironie gäbe.

Auch wenn Hörende ihre Aussagen "nicht böse meinen", sind die Folgen bei manchen gehörlosen Menschen psychische Erkrankungen. Dieses Phänomen nennt man Mikroaggressionen.

Thema Sexualität

"Orgasmus doch leicht, oder?" lautete ein weiteres Thema des Jugendfestivals. Sicher für manche ein heikles Thema – nicht so für die Referentin Conny Tiedemann. Sie ist als "Sexfee Conny" schon bekannt in den sozialen Medien. So offen wie jetzt war sie mit Thema Sex nicht immer – im Gegenteil. Im Elternhaus wurde überhaupt nicht darüber gesprochen. Es war ihre Schwester, die dieses Tabu brach, da war Conny schon 25 Jahre alt. Sie erzählte ganz offen vom Sex des Vorabends. "Ich war völlig perplex. Das war doch peinlich! Aber dass sie es geschafft hat, so offen zu sein, hat dazu geführt, dass ich anfangen konnte, mit ihr auch über meine Probleme zu sprechen", erinnert sich Conny heute. Der Austausch ging weiter, erst mit engen Freunden, dann auch mit Fremden. Heute gibt sie ihr Wissen weiter online – und auf dem Jugendfestival eben auch live.

"Ich selbst hatte früher auch viele Ideale, Vorstellungen und Erwartungen, die immer wieder einfach nicht hingehauen haben. Ich hab mich gefragt, sind meine Vorstellungen, meine Erwartungen so falsch? Wie kommt das? Habe ich so viele Vorurteile? Das kommt einfach daher, dass das Thema so ein großes Tabu ist. Da haben mir viele Gespräche und meine Umfragen sehr geholfen, meine Erwartungen oder Vorstellungen zu korrigieren und ich habe viel dazugelernt."

Conny Tiedemann

Die Erfahrung zeigt, ihr offenes Angebot wird gebraucht und geschätzt. Auch auf dem Jugendfestival. Zum Schluss ihres Vortrags bekam sie den Hinweis aus dem Publikum, doch einen Workshop zu veranstalten. "Ich habe das Gefühl, es braucht eine kleinere Workshop-Gruppe, um sich darüber auszutauschen und Strategien zu erarbeiten, wie man Dinge offen ansprechen kann und woher man den Mut dazu nehmen kann. Ich habe das Gefühl, da ist ein großer Bedarf und da werde ich in nächster Zeit noch einen Workshop machen", bestätigt Conny.  

Awareness-Team vor Ort

Aber auch andere Themen des Jugendtfestivals zogen großes Interesse auf sich, wie etwa Taubblindheit, Bodyshaming, Black Lives Matters oder politischer Aktivismus. Manche dieser Themen können bei dem einen oder der anderen schon mal unangenehme Gefühle auslösen. Deshalb gab es beim Jugendfestival erstmals ein Awareness Team. Dessen Aufgabe ist es, bei Vorträgen mit Triggerwarnungen (Trigger aus dem Englischen = Auslöser) dafür zu sorgen, dass es allen gut geht. Es steht für Gespräche zur Verfügung und kann sich bei Bedarf mit den Betroffenen in einen geschützten Raum zurückziehen.

Ein großer Erfolg

Doch trotz - oder gerade wegen - der manchmal großen und teilweise heiklen Themen war das 5. Jugendfestival in Hamburg ein voller Erfolg. Die Besucherinnen und Besucher waren voll des Lobes, auch über die Auswahl der Themen, die sich sehr an den Bedürfnissen der jungen Menschen orientierten. So kam auch der Vorschlag, den Veranstaltungsrhythmus zu verkürzen. Geplant ist die nächste Veranstaltung jedenfalls in Essen.

"Ich hoffe, das Jugendfestival bewegt etwas in die Richtung, dass mehr und offener über bisherige Tabus gesprochen werden kann, selbstbewusst und ganz ohne Angst. Es hat sich schon einiges getan, aber oft sind es noch Einzelkämpfer und ich freue mich darauf, wenn nicht jeder alleine für sich ist, sondern wir alle gemeinsam zusammenkommen."

Josephine Kirkegaard, Referentin zum Thema Bodyshaming


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