BR Fernsehen - Sehen statt Hören


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Melissa Wessel Journalistin aus Leidenschaft

Angenehm, unkompliziert, teamfähig, zuverlässig, zielstrebig, organisiert, humorvoll: So wird Melissa Wessel von ihrem beruflichen und privaten Umfeld beschrieben - durchweg positiv. Dabei hat Melissa als Journalistin einen richtig vollgepackten Zeitplan. Aber sie liebt, was sie tut.

Stand: 15.05.2024

Lesen, das war schon immer Melissas Ding. Auch schon als sie noch ganz klein war.

"Meine Mama hatte immer überall in der Wohnung Bücher liegen und ich hab mir einfach eins geschnappt. Bücher waren schon immer meine Leidenschaft. Ich hab viel und schon sehr früh gelesen und im Urlaub hatte ich immer ein kleines Köfferchen nur mit Büchern dabei", erinnert sie sich. Bis heute hat sie diese Liebe nicht losgelassen.

Unter Hörenden aufgewachsen

Melissa stammt aus München. Trotz ihrer tauben Eltern hatte sie nie viel Kontakt zu anderen gehörlosen Kindern. Sogar in der Schule war sie die einzige Gehörlose in der Klasse. Doch sie hat sich dort unter den Hörenden sehr wohl gefühlt: Der Austausch war gut, die Interessen ähnlich. Etwa ab der neunten Klasse änderte sich das: Es wurde zwischenmenschlich schwieriger, als die Zeit kam, in der die Jugendlichen unterwegs waren – und der Freundeskreis größer wurde. "Da hab ich mich schnell ausgeschlossen gefühlt, weil es schwierig war zu kommunizieren", sagt Melissa Wessel. 

Identität in der Gehörlosen-Gemeinschaft gefunden

Ein Schulwechsel nach Essen brachte das Mädchen dann schließlich in ein anderes Umfeld – in ein gehörloses Umfeld. Was sie dort erlebt hat, sollte sie nachhaltig prägen. "Ich hab mich dort sofort wohl gefühlt. Die Gemeinschaft, im Internat und in der Schule, überall konnte ich mit allen kommunizieren." Einen Riesenunterschied machte für Melissa die Kommunikation: Sie musste nicht mehr mühsam alles von den Lippen lesen.

"Durch Essen ist mir meine taube Identität erst richtig bewusst geworden", sagt Melissa Wessel heute. Sie war angekommen. Ihr Zuhause: die Gebärdensprache und die Welt der Gehörlosen. Hier machte sie schließlich nach drei Jahren ihr Abitur und ging nach München zurück, um Anglistik zu studieren. Doch das war nicht einfach für sie. "Ich hab mich schwer getan mit der Rückkehr in die Welt der Hörenden im Studium. Mir fehlte die Motivation. Das Fach hat mich total interessiert, aber ich konnte mich nicht aufraffen."

Erfolgreich in England

Die Motivation kam erst zurück, als ihre Mama einen Tipp bekam: Wenn Melissa Englisch so mag, warum geht sie nicht nach England? Dort gibt es beispielsweise Deaf Studies. Gesagt getan: Die Bewerbungen gingen raus, in Wolverhampton wurde die junge Frau angenommen.  Ab dann studierte sie Deaf Studies und Englische Linguistik. Zunächst war alles eine große Herausforderung, doch Melissa lernte schnell und fand Anschluss. Schließlich hat sie alles geschafft: Sie bekam ihre Graduation. "Ich war so stolz und habe mich so für sie gefreut. Es war so toll zu sehen, wie sie auf die Bühne geht und das Zeugnis überreicht bekommt, ein Gänsehautmoment", erinnert sich ihre Mutter Gerti.

Für die Mama war es schwer, ihr Kind so früh und so weit weg ziehen zu lassen. Aber Melissa war schon früh selbständig, "das hatte sicher auch mit meiner Situation als alleinerziehende Mama zu tun", sagt Gerti. Auch sie war schon mit 18 von zu Hause weggeganen und hatte allein gelebt. Jetzt ist die Tochter dran. “Sie soll ihren Weg gehen, dabei unterstütze ich sie.” Und sie habe ja schon sehr viel erreicht, sagt die Mama stolz.

Ohne Berufswunsch zum Traumjob

Für Melissa war ihr Weg allerdings nie klar: Berufswunsch gab es keinen, Ziele waren nicht definiert. “Ich hatte eigentlich nie geplant Journalistin zu werden. Das hat sich einfach so ergeben“, sagt sie heute. Ihr Interesse für Bücher und Sprache war dabei wohl ausschlaggebend. Sie hatte hin und wieder einen Artikel verfasst, zwei Wochen ein Praktikum in England bei "See Hear" gemacht – eine Sendung die bei BBC läuft und vergleichbar mit „Sehen statt Hören“ ist. All das hat sie ihren Spaß an der journalistischen Arbeit entdecken lassen. "Ich glaube, das hat mir die Augen geöffnet, dass dieser Bereich gut zu mir passen könnte."

Abschluss oder eine Ausbildung als Journalistin hat Melissa nicht gemacht. Aber sie hat viel gelernt – bei der BBC, in Seminaren und Kursen. Und weil sie es liebt, sich immer neuen Herausforderungen zu stellen, war das ihr Traumjob.

Von der BBC zur Deutschen Gehörlosenzeitung

Sie kam direkt von der BBC zu HandDrauf bei Instagram und schrieb erste Artikel für die Deutsche Gehörlosenzeitung. Gelernt hat sie dabei vor allem vom damaligen Chefredakteur Thomas Mitterhuber. Und die Redaktion war so begeistert von der jungen Schreiberin, dass sie 2022 gefragt wurde, ob sie nicht Thomas Posten übernehmen wolle. Sie wollte. Heute ist Melissa Chefredakteurin der Deutschen Gehörlosenzeitung -  und brennt für dieses Medium.

"In England gibt es nichts Vergleichbares zur Deutschen Gehörlosenzeitung. Und selbst weltweit wüsste ich nichts, da man zu hundert Prozent mit der DGZ vergleichen könnte. Ich war schon immer stolz, dass wir das in Deutschland haben. Und dass es von einer tauben Herausgeberin geleitet wird und nicht von Hörenden. Es ist ein Medium von und für taube Menschen. Das ist sehr wertvoll und das möchte ich erhalten." Wie gut sie das macht, zeigt die Auszeichnung für behinderte Journalist:innen, die Melissa 2023 erhielt.

Heute lebt Melissa Wessel in Birmingham. Das tut sie gerne – trotzdem vermisst sie Deutschland, das bleibt ihre Heimat. Zufrieden ist sie dennoch mit ihrem Leben. Sehr sogar. "Ich habe alles, was ich brauche. Was dabei sehr wertvoll ist, dass ich einen Job habe, den ich liebe, der mir Spaß macht und mich motiviert. Das ist nicht selbstverständlich, eine Arbeit zu haben, zu der man sich nicht zwingen muss, sondern die man gerne macht. Ich hoffe, das bleibt noch ganz lange so. Das kann sich auch schnell ändern, das weiß man nie, aber ich hoffe ich habe noch lange Spaß an meiner Arbeit."


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