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Stiftung Anerkennung und Hilfe Wiedergutmachung für ein dunkles Kapitel?

Schläge, Misshandlungen, Demütigung: Für viele Kinder und Jugendliche, die in Heimen und Pflegeeinrichtungen untergebracht waren, leidvoller Alltag. Bereits 2011 wurde ein Fond geschaffen, um betroffene Heimkinder zu entschädigen. Größtes Manko: Behinderte, die zum Teil in denselben Einrichtungen lebten, wurden von diesem Fond nicht umfasst. Mit der Stiftung Anerkennung und Hilfe wurde diese Regelungslücke endlich geschlossen.

Von: Elke Marquart (Film), Claudia Erl (Online-Text)

Stand: 20.01.2021 |Bildnachweis

Nach jahrelangem politischen Ringen gibt es seit Januar 2017 mit der Stiftung Anerkennung und Hilfe endlich auch einen Fond für Betroffene, die Misshandlungen in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe oder Psychiatrie erlebt haben.

Antragsfrist noch einmal verlängert

Ursprünglich sollten Anträge bis Ende 2019 eingegangen sein, dann wurde die Frist bis 31. Dezember 2020 ausgedehnt, inzwischen hat das Bundeskabinett die Verlängerung der Antragsfrist bis zum 30. Juni 2021 beschlossen.

Schreckliche Erinnerungen

Hans Busch, München

"In den Klassenräumen gab es Prügelstrafen. Auch andere Gehörlose haben erzählt, wie sie geschlagen und schikaniert wurden bis aufs Blut. Ich war nicht selbst betroffen, erinnere mich aber an eine Begebenheit aus der 7. Klasse: Ich wurde Zeuge, wie der Lehrer mit einem Stock, den er versteckt hatte, auf einen Jungen immer wieder einschlug. Der schrie so laut, dass wir anderen Schüler in der Klasse es hören konnten, obwohl doch alle taub waren. Es war furchtbar."

"Sehr, sehr viele Heimkinder berichten von Prügelstrafen, aber eben auch von anderen Methoden, die - wenn man es ganz genau nimmt - eigentlich an unmenschliche Behandlungsformen grenzen. Man könnte sogar sagen, dass es die Menschenrechte berührt. Es gab Isolationsstrafen, es gab Essensentzug. Es gab Kontaktsperren, nicht nur zu den Eltern, auch zu den Geschwistern. Geschwister wurden häufig getrennt. Man kann auch sogar sagen, mangelnde medizinische Versorgung ist so ein Fall, der das ganze Leben ja betreffen kann. Mangelnde Bildungsmöglichkeiten für Kinder in solchen Einrichtungen haben das ganze Leben sozial geprägt."

Prof. Karsten Laudien, Institut für Heimerziehungsforschung

Die Stiftung

Von Bund, Ländern und der Kirche wurde endlich ein Fonds in dreistelliger Millionenhöhe bereitgestellt. Zuständig für die Verteilung des Geldes ist die "Stiftung Anerkennung und Hilfe". In jedem Bundesland gibt es eine oder mehrere Anlaufstellen. Bisher haben rund 5.000 der Betroffenen einen Antrag gestellt. Das sind etwa 4% derer, die anspruchsberechtigt sind.

Wie, wo und bis wann stelle ich einen Antrag?

Einen Antrag zu stellen ist ganz einfach: Es genügt ein Fax oder eine Mail an die Anlaufstelle mit der Mitteilung, dass man den Antrag stellen möchte. Anschließend erfolgt eine Einladung von der Stiftung zum Gesprächstermin.  Bei Bedarf wird dabei ein Dolmetscher gestellt, wahlweise kann man selbst eine Vertrauensperson mitbringen. Man berichtet über die Erfahrungen, bringt evtl.  Belege für den Aufenthalt (z.B. Fotos, Meldebescheinigungen, Briefe o.ä.) mit. Mit Unterstützung der Anlaufstelle wird dann der Antrag formuliert. Dieser wird geprüft und schließlich bekommt man die Entscheidung mitgeteilt. Bei Anerkennung erhalten die Opfer bis zu 9.000 Euro Unterstützungsleistung. Abgezogen darf von der Summe nichts werden – weder vom Sozial- noch vom Finanzamt. Anträge können noch bis 30. Juni 2021 gestellt werden.

Zusätzliche Unterstützung für Gehörlose

Eine Besonderheit gibt es in Osnabrück: Hier steht die Beratungsstelle für hörgeschädigte Menschen in enger Kooperation mit der Stiftung. Sie unterstützt Betroffene auch durch ein vorgelagertes Gespräch, bevor sie im Anschluss daran die Anlaufstelle aufsuchen. Ein Service, der gerne in Anspruch genommen wird.

"Manche schaffen das gut - sie gehen direkt zur Anlaufstelle der Stiftung, wo ein Dolmetscher da ist und damit das Ausfüllen kein Problem ist. Vor allem bei älteren Gehörlosen aber, beginnt es schon mit der Homepage – sie haben gar keinen Computer! Sie bitten dann um Hilfe beim Ausfüllen des Antrages und sie brauchen jemanden an ihrer Seite für ein Mehr an Sicherheit und Vertrauen. Sie wollen vorab wissen, wie das Gespräch abläuft, wie sie dorthin kommen, sie vergewissern sich immer wieder, dass wirklich ein Dolmetscher vor Ort ist. Wenn sie sich schließlich sicher fühlen, dann läuft es gut und auch ältere Gehörlose schaffen das gut."

Gisela Otten, Beratungsstelle für Hörgeschädigte

3 Fragen an Esen Akmese von der Stiftung Anerkennung und Hilfe

Als Voraussetzungen für den Antrag werden "Unrecht und Leid" genannt. Wie ist das zu verstehen?

"[…] Leid ist ja etwas Individuelles. Das heißt, jemand empfindet, was ihm oder ihr widerfahren ist, als leidvoll. Das kann unterschiedlich sein, da ist die Individualität des Erlebens ausschlaggebend. Unter Unrecht ist die Vorstellung, dass geltendes Recht verletzt wird oder missachtet wird. Wenn zum Beispiel körperliche Gewalt an Kinder und Jugendliche in der Zeit erfolgt sind. Zwangsmaßnahmen, auch Taten, die heute als Unrecht gelten, damals aber als möglicherweise rechtmäßig gelten, gelten für uns, wie gesagt, heute als Unrecht."

Die Einrichtungen heute

Für die Betroffenen sind ihre Erlebnisse  häufig nicht einfach zu formulieren. Viele leiden ihr Leben lang unter den Misshandlungen. Doch was ist mit den Einrichtungen, an denen das Unrecht passiert ist? Auch hier ist die Betroffenheit groß. Und der Wille zur Aufarbeitung auch.

"Das hat schon sehr große Betroffenheit ausgelöst, weil wir bisher diese Dinge ja nicht erfahren haben. Es ist niemand zu mir gekommen und hat gesagt: Ich war vor 40 Jahren bei Ihnen an der Schule und da hat es was gegeben […] Wir waren auf das jetzt nicht so vorbereitet. […] Keiner, der heute an der Schule ist, trägt persönliche Verantwortung. Aber wir tragen Verantwortung für das, was die Tradition unseres Hauses betrifft. Unser Haus gibt es seit 1835. Und wir werden das schon in Zusammenarbeit mit den Betroffenen aufarbeiten,"

Fritz Geisperger, Institut für Hören und Sprache, Straubing

Weggeschaut …

Doch hatte tatsächlich niemand eine Ahnung, was hinter den Türen der Heime und Einrichtungen passierte? Ganz so war es wohl nicht, wie das Archiv des Bayerischen Landesverband der Gehörlosen in München beweist.

"Um 1965 gab es einen Artikel in der Zeitung über Proteste von Eltern über Vorkommnisse in Schule und Heim, wie Prügelstrafen und Essen unter Zwang. Das Direktorium stritt alles ab und die Eltern waren machtlos dagegen. Die Opfer von damals aber haben das nicht vergessen und einer von Ihnen schickte mir den Zeitungsartikel, der belegt, dass die Eltern schon 1965 dagegen vorzugehen versuchten. Ganz ohne Erfolg."

Markus Beetz, Gehörlosen-Landesverband Bayern

Genügend Wiedergutmachung?

Und auch heute genügt das Geld der Stiftung vielen als Ausgleich nicht. Das heilt ihre Wunden nicht. Vor allem, weil die Täter häufig noch  leben, teilweise mit Auszeichnungen versehen wurden.  Konsequenzen gibt es für sie nicht. Während manche Opfer das dunkle Kapitel ihres Lebens lieber vergessen würden, fordern andere Gerechtigkeit.

"[…]Meine Sicht ist erstens: Der Berufsverband der Hörgeschädigtenpädagogen müsste sich offiziell bei den Opfern entschuldigen. Und zweitens: Die Täter müssen bestraft werden! Ihre Auszeichnungen müssen ihnen aberkannt werden und in den Heimen müsste ein Mahnmal mit der Aufschrift 'NIE WIEDER' eingerichtet werden. Ich denke, dann wäre den Opfern geholfen, mit diesem Lebensabschnitt abzuschließen."

Markus Beetz

"Bin ich zufrieden? Hm, die geldliche Entschädigung ist die eine Sache. Wichtig wäre mir eine Entschuldigung. Von den Lehrern und Erziehern, für den Spott und den Vergleich mit den Affengebärden. Vielleicht wäre ich dann zufrieden. Ja, und wenn ich aufrichtige Reue an ihren Gesichtern ablesen könnte, dann machte mich das zufrieden."

Hans Busch                                  







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