BR Fernsehen - Sehen statt Hören


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Taubblind ... und mitten im Leben

Noch vor wenigen Jahren bedeutete taubblind zu sein ein Leben in Isolation. Doch inzwischen hat sich auch für diese kleine Community einiges getan: Judith, Kristin und Georg, drei taubblinde Menschen, sind dafür der Beweis: als Motivatorin und Bloggerin, als Mitglied eines Empowerment-Teams und als Selbsthilfe-Netzwerker ermuntern sie andere taubblinde Menschen, sichtbarer zu sein und mehr Selbstbewusstsein zu zeigen. Sehen statt Hören hat die drei begleitet.

Stand: 02.11.2023

Der Taubblinden-Fachtag Ende Oktober war ein großes Ereignis für die Community. Organisiert wurde die Veranstaltung von "handfest" und dem Landesverband der Taubblinden. Das Ziel: Eine Plattform anzubieten für einen Austausch zwischen Taubblinden, Vorträge, Gespräche, Unterstützung und vor allem positive Vorbilder. Drei von diesen positiven Menschen sind Judith, Kristin und Georg.

Judith Boers

"Mein Ziel ist es, hörenden und sehenden Menschen über Instagram klarzumachen, wie vielfältig wir taubblinde Menschen sind und dass wir mehr schaffen können als sie glauben."

Judith Boers

Gehörlos geboren, trägt Judith seit ihrem zweiten Lebensjahr ein CI. Die Diagnose "Usher" bekam sie mit zwölf. Zu diesem Zeitpunkt wusste sie nicht, was das heißt. "Ich hab’ dann daheim recherchiert und war geschockt, dass das zu Blindheit führen kann. […] Als mir klar wurde, was es heißen kann, war mein Selbstbewusstsein im Keller. Ich bin in ein tiefes Loch gefallen. Meine Welt ist zusammengebrochen", erinnert sie sich. Wie lange werde ich noch sehen können? Wie lange wird mein Leben so noch weitergehen können? Werde ich eine Familie gründen können? Werde ich mein Kind sehen können? Wie lange kann ich noch verreisen? Solch düstere und existenzielle Fragen schwirrten ihr im Kopf herum.

Heute sieht Judith sehr schlecht, ihr Gehör ist allerdings geräteversorgt ganz gut. Sie arbeitet als Verwaltungsfachangestellte in Steinfurt. Und in ihrer Freizeit? Ist sie nach wie vor sehr aktiv. Reisen – das ist Judiths ganz große Leidenschaft, schon als Kind war sie neugierig auf neue Länder, auf neue Kulturen und Natur. Ihre Reiseleidenschaft ist weiter ungebrochen- gerade erst war sie in Nepal. "Dort riecht es ganz anders als hier. Der Geruch der Gewürze, der bleibt einem im Gedächtnis hängen. Auch haptisch gab es viel zu entdecken: Häuser mit Holzornamenten zum Erfühlen. Einfach spannend. Ganz anders als hier in Deutschland", schwärmt Judith.

Doch sie hat auch noch andere Hobbys: Judith mag Sport und singt im Gebärdenchor "Sing a Sign". Zu den Proben wird sie von der Taubblindenassistentin Julia begleitet – ein großes Stück Freiheit für Judith. "Für mich ist eine Taubblindenassistenz wichtig. So bin ich selbständig." Julia unterstützt sie auch beim Einkaufen, beim Sport beim Schwimmen – sie sucht für Judith in den Regalen, kommuniziert für sie im Chor mit den vielen Menschen oder gibt Judith Orientierung in der Schwimmhalle.

Kristin Reker

"Früher haben wir uns nichts zugetraut, haben uns weggeduckt, waren bescheiden, haben einfach ausgehalten. Wir wurden bemitleidet und überbehütet. Das ändert sich gerade. Wir gehen jetzt positiv voran, zeigen uns selbstbewusst. Es ist eine richtige Emanzipations-Bewegung entstanden."

Kristin Reker

Kristin wuchs in Gütersloh auf und ging dort auch zur Schule. Die Diagnose "Usher" kam für sie erst, als sie bereits Ausbildung und Studium abgeschlossen hatte und mitten im Arbeitsleben stand. Für Kristin ein Schock – denn sie hatte sich einen absolut visuellen Beruf ausgesucht: "Ich war gelernte Mediengestalterin und hatte dazu noch Grafikdesignerin studiert. Ich brauchte meine Augen jeden Tag und das war auf Dauer sehr anstrengend und mit „Usher" einfach nicht mehr zu machen", erinnert sie sich. So war die Diagnose für sie ein Riesenschock, der ihr den Boden unter den Füßen wegriss. Um das zu verarbeiten, hat sie fast zwei Jahre gebraucht - erst dann konnte Kristin wieder an ihre Zukunft denken – und sich umorientieren.

Beruflich sattelte sie auf Soziale Arbeit um. Bis Ende 2022 arbeitete Kristin bei der Deutschen Gesellschaft für Taubblindheit als EUTB-Beraterin. Doch dann der nächste Einschnitt: Im Herbst 2022 erfuhr sie, dass die EUTB-Beratung ihre Türen schließen muss. "Ab 2023 hätte es dann kein Angebot mehr für Taubblinde in Nordrhein-Westfalen gegeben. Das hat uns große Sorgen bereitet. Wir haben überlegt und überlegt. Es musste ein neues Projekt mit Angeboten für taubblinde Menschen her", erinnert sie sich. So entstand ein Konzept mit den Schwerpunkten Selbsthilfeförderung und Empowerment. Und das Konzept gefiel: "handfest - Peerakademie für Taubblinde" hat eine Genehmigung erhalten.

All das hat Kristin selbstbewusst und stark gemacht – und Identität geschaffen. Sie kam aus der lautsprachlichen, aus der hörenden Welt, heute ist sie gebärdensprachlich unterwegs. "Meine Identität und meine Forderungen sind heute klar: Ich brauche die Gebärdensprache, ich brauche gutes Licht, spezielle Brillen, die passende Ausstattung, - barrierefrei für meine Hörsehbehinderung. Ich verstecke mich nicht mehr, so wie ich das früher getan habe. Heute zeige ich deutlich, was ich brauche und ich bin stolz zu sagen - ja, ich bin taubblind!"

Georg Cloerkes

"Wir Taubblinde müssen uns zeigen. Wir dürfen uns nicht zuhause verstecken. Wir müssen raus, Kontakte knüpfen, uns miteinander austauschen. So bekommen wir mehr und mehr Anschluss und Kontakte."

Georg Cloerkes

Georg kam in Krefeld zur Welt, ging in Köln und Dortmund zur Gehörlosenschule. Etwa mit zwölf bemerkte er, dass er in der Dunkelheit nicht mehr so gut sehen kann. Mit seinen Schulfreunden kam es immer öfter zu Missverständnissen, auch die Kommunikation in Gebärdensprache funktionierte nicht mehr. "Zum Beispiel beim Volleyballspielen, da hab´ ich den Ball immer nicht getroffen und fallen gelassen, weil ich ihn nicht sah und danebengriff. So konnten wir nicht mehr zusammenspielen. Ich war außen vor, ausgeschlossen", erinnert er sich.

Nach der Realschule machte er eine Ausbildung zum Technischen Zeichner. Heute baut Georg Gebäude mit Lego nach –aus dem Gedächtnis. „Da hilft mir mein früherer Beruf. Ich habe eine Vorstellung im Kopf von Gebäuden und Stockwerken, und auch wenn ich jetzt nichts mehr sehen kann, so kann ich doch Gebäude erschaffen. Das macht mich froh.“

Als Georg um die 40 war, wurden seine Augen immer schlechter. Er sieht seither alles verschwommen, „wie im Nebel“. Zudem ist er sehr lichtempfindlich. Geblieben ist ihm nur ein sehr kleiner kreisrunder, scharfer Sichtbereich – und er kann in der Dunkelheit noch gut verschiedene Lichtfarben erkennen.

Die Erinnerung an die Einsamkeit und Probleme in seiner Kindheit brachte Georg schließlich auf eine Idee: Er gründete eine Selbsthilfegruppe für taubblinde Menschen. Fünf Jahre gibt es sie nun schon, die „SHG Taubblind AKTIV Köln/Essen“. Sechs Mal im Jahr organisiert die Gruppe Aktivitäten: Das reicht von Wanderungen über Bastelangebote oder einen gemeinsamen Museumsbesuch. "Die Angebote sind so zwei bis drei Stunden lang", erklärt Georg. Ein schönes Miteinander bei abwechslungsreichen Erlebnissen.

Einmal in der Woche lässt sich Georg von seiner Assistenz ins Reha-Training begleiten. Hier trifft er unterschiedliche taubblinde Menschen, mit ganz unterschiedlichen Kommunikationsformen. "Aber hier beim Sport sind wir alle gleich. Hier bewegen wir uns, treiben Sport. Das tut gut. Ich denke, das sollte noch mehr werden. Miteinander in Kontakt kommen, sich treffen, austauschen. Ja, das denke ich", freut sich Georg.

Georg ist auf jeden Fall Vorbild – denn er lebt für die Selbsthilfe.


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