Was bewegt Deutschland? Heimatgefühl und Landflucht
Was bewegt Deutschland im Vorfeld der Bundestagswahl? Nina Landhofer war daheim in Radevormwald in NRW. Früher Standort mehrerer Tuchfabriken, versucht die Gemeinde heute, das langsame Sterben des Ortes zu verhindern.
Auf dem Weg in die alte Heimat. Nach drei Jahren Abstinenz. Nach immerhin schon 18 Jahren in Oberbayern. Auf dem Weg nach Radevormwald, oder auch einfach kurz Rade. Viele Ältere kennen den Ort, weil es hier 1971 ein verheerendes Zugunglück gab. Rade liegt im Oberbergischen Kreis, nicht weit weg von Remscheid und Wuppertal, im Regierungsbezirk Köln. Etwa 23.000 Einwohner, als ich Abitur gemacht habe, waren es noch 3.000 mehr.
Mehrere mittelständische Unternehmen sorgen für Arbeitsplätze
Das Hotel zum Löwen liegt mitten in der verkehrsberuhigten Einkaufsstraße und hat schon bessere Zeiten erlebt. Ich habe das letzte Zimmer erwischt – und das erst für einen Scherz gehalten. Aber es stimmt – die anderen sind belegt mit Arbeitern, die unter der Woche auf Montage hier sind- Ein großes mittelständisches Unternehmen im Ort, Gira, vielen bekannt durch die Lichtschalter, baut ein neues Fertigungs- und Logistikzentrum. 550 Mitarbeiter sollen dort ab 2018 arbeiten. Insgesamt bietet das Unternehmen 1.700 Arbeitsplätze. Eines von mehreren familiengeführten Unternehmen, die dafür sorgen, dass die wirtschaftliche Struktur des Ortes gar nicht so schlecht ist.
Leere Ladenlokale in der einzigen Einkaufsstraße
Der Marktplatz ist schön geworden. Früher brausten hier die Autos durch, heute flanieren hier die Fußgänger. Die Häuser rundum sind alle grau geschiefert, mit weißen Fenstern und grünen Fensterläden. Typisch für die Region. Ein paar Meter weiter sind einige leere Ladenlokale – in der einzigen Einkaufsstraße des Ortes. Ein trostloser Anblick. Denn viel Auswahl gab es hier noch nie.
Ich beschließe, ein Bier in der Bar meines Hotels zu nehmen, und zu hören, was die Stammgäste umtreibt. Die Leerstände bei den Ladenlokalen beschäftigt die Leute – aber richtig erklären können sie sich das Phänomen nicht. Die Mieten seien zu hoch.
"Es ist einfach unattraktiv geworden für Einzelhändler. Wir haben auch kein Bekleidungsgeschäft mehr, gar nichts mehr in der Richtung."
Gast im Hotel Löwen
Am nächsten Tag geht's ins in Rathaus, von außen ein uncharmanter, mehrstöckiger Betonklotz, von innen aber hat man einen schönen Blick auf Teile der Altstadt. Burkhard Klein leitet das Bauverwaltungsamt und ist auch für die Stadtentwicklung zuständig. Er erklärt mir das integrierte Handlungskonzept der Stadt, das seit 2010 existiert.
"Wir haben dafür gesorgt, dass man in die Innenstadt hineinfahren kann, sodass auch die Leute den Einzelhandel direkt sehehn können und dort parken können."
Burkhard Klein, Bauverwaltungsamt Radevormwald
Ziel: Das langsame Ortssterben verhindern
Die Stadt versucht seit einigen Jahren, etwas gegen den Leerstand beim Einzelhandel zu tun, das langsame Sterben des Ortes zu verhindern. Die Innenstadt schöner und attraktiver zu machen war das eine, aber es wird auch auf anderem Wege versucht, das Schrumpfen der Bevölkerungszahl zu stoppen: durch die Ausschreibung neuer Wohngebiete.
"Wenn wir vielleicht mehr Wohnungen schaffen, haben wir vielleicht mehr Kunden. Und mehr Kunden führen dazu, dass wir den Einzelhandel stärken und zusätzliche Läden gewinnen können."
Burkhard Klein, Bauverwaltungsamt Radevormwald
Und es pendeln Menschen zum Arbeiten hierher – auch die könnten auf Dauer einen Ort beleben. Im Rathaus setzt man seit einiger Zeit schon auf mehr Bürgerbeteiligung- und das funktioniert. Gemeinsam wollen Stadt und gesellschaftlich Engagierte dem demographischen Problemen entgegenwirken.
"Das ist das Thema Mobilität, Familie und Jugend, das Problem der Versorgung. An den Wupperorten gibt es sehr wenig Einzelhandel. Da versuchen wir, Lösungen zu finden."
Burkhard Klein, Bauverwaltungsamt Radevormwald
An den Wupperorten. Darüber wurde immer wieder geredet, seit meiner Ankunft. Die Wupperorte sind Vororte von Radevormwald. Sie liegen ein paar Kilometer weg, sind aber quasi Stadtteile. Dahlerau zum Beispiel, der Ort, in dem ich aufgewachsen bin. An einem steilen Hang gelegen, ziehen sich die Häuser an der Hauptstraße, der Keilbeckerstraße, entlang, bis hinunter in Tal, wo die Wupper fließt.
Letzte Tuchfabrik der Region schloss 1996
Unten, an der Wupper, waren früher mehrere große Tuchfabriken, die das Wasser zur Fertigung und Verarbeitung der Stoffe brauchten. Wegen der Tuchfabriken sind hier überhaupt erst größere Siedlungen entstanden. Mit Kino, Metzger, Bäcker, Frisör, Lebensmittelgeschäft, Schreibwarenladen, Pommesbude, Blumenladen. Eben mit allem, was ein Dorf so braucht. Als 1996 die Firma Johann Wülfing und Sohn nach 181 Jahren als letzte der Fabriken schließen musste, ließ sich schon erahnen, dass dies mehr als nur ein Todesurteil für ein paar Arbeitsplätze sein würde.
Ich beschließe dorthin zu fahren. Ist die Sorge der Stadtverwaltung denn wirklich berechtigt, dass das kleine beschauliche Dahlerau zum sozialen Brennpunkt mutiert? Auf dem ehemaligen Wülfing-Gelände versucht ein kleiner Museumsverein unter der Leitung des ehemaligen Betriebsleiters Wolfgang Masanek, das Andenken an die Firma lebendig zu halten.
Auch Wolfgang Masanek beklagt, dass in Dahlerau nach der Schließung des letzten großen Arbeitgebers, der Tuchfabrik, niemand etwas für den Ort getan hat.
"Früher war hier ein Geschäft neben dem anderen. Ganz zu schweigen von den ganzen Gasthäusern, die es hier gab. Das verkommt dann zur Schlafstadt."
Wolfgang Masanek, Museumsleiter Wülfing-Gelände
Bürgerverein will Vororte attraktiver machen
Im Rahmen der Bürgerbeteiligung hat sich eine Initiative gebildet, die Dahlerau wieder lebenswerter machen will. Dreh- und Angelpunkt ist der Mitgründer Richard Hückesfeld, der Frisör des Ortes, dem einzigen Laden, den von früher übriggeblieben ist. Richard Hückesfeld hat sich Verstärkung in sein Geschäft geholt. Neben Spiegeln und Waschbecken sitzen an diesem Montag noch weitere Mitglieder des Bürgervereins der Wupperorte – und seine Tochter Andrea, die mit mir in die Grundschule gegangen ist. Mit ihrem Vater gemeinsam betreibt sie nun den Laden. Nach ein paar Jahren im Nachbarort hat es sie zurückgezogen nach Dahlerau, in die Heimat.
Andrea Hückesfeld ist eine der wenigen, die hiergeblieben sind. Mit der Schließung der Fabriken, ging alles los, erzählt ihr Vater, der Frisör Richard Hückesfeld. Als der Verein anfing, nahmen sie erst einmal kleine Probleme in Angriff, berichtet Beisitzer Armin Barg.
Mangelnde Infrastruktur
Zu lösen sind allerdings noch viele Probleme. Einzelhandel und Leerstände ist nur das eine. Ärztliche Versorgung, schnelles Internet, Infrastruktur weitere. Viele Buslinien sind eingestampft mittlerweile. vor allem für ältere Menschen ein Problem, die auch den steilen Berg nicht mehr gut hoch und runter laufen können. Hansotto Ottfried vom Bürgerverein managed den Bürgerbus, den es mittlerweile gibt – ehrenamtlich versteht sich.
"Wir ersetzen den ÖPNV. Wir haben da 9.000-10.000 Menschen, die wir jährlich von A nach B befördern."
Hansotto Ottfried, Manager des Bürgerbusses
Ländliche Gebiete veröden
Wie vielerorts bleibt das Engagement an einigen wenigen hängen. Doch mittlerweile ist der Verein gut vernetzt – auch in die Verwaltung. So gut, dass Burkhard Klein vom Bauverwaltungsamt nun mit der Rettung des Stadtteiles befasst ist. Eines sehen die Dahlerauer dennoch mit Sorge: die Ausschreibung neuer, stadtnaher Wohnbaugebiete – hätten sie den Zuzug doch lieber an die Wupper gelockt. Da machen sich zwei Stadtteile gegenseitig Konkurrenz. In dem einen kann besichtigt werden, wovor Städteplaner und Demographie-Forscher seit Jahren warnen: der Verödung der ländlichen Gebiete.
Trotzdem kann ich nach diesem Nachmittag plötzlich verstehen, dass nicht alle, so wie ich, hier weggegangen sind. Den letzten Abend vor meiner Abreise verbringe ich noch einmal mit den Stammgästen in meinem Hotel. Und bin fast gerührt, als ich zum Abschied ein Ständchen bekomme: das Bergische Heimatlied.
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"Was bewegt Deutschland im Vorfeld der Bundestagswahl? Um diese Frage ein Stück weit beantworten zu können, haben sich fünf Kolleginnen in ihre Heimatorte aufgemacht, haben mit den Menschen dort gesprochen, um herauszufinden, was ihnen auf den Nägeln brennt.
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