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Was bewegt Deutschland? Die Saar braucht offene Grenzen

Was bewegt Deutschland im Vorfeld der Bundestagswahl? Sissi Pitzer kommt aus dem Saarland. Offene Grenzen sind dort eine Selbstverständlichkeit. Franzosen und Deutsche fahren ins jeweilige Nachbarland, um einzukaufen oder auszugehen. Sie können es sich gar nicht mehr anders vorstellen.

Von: Sissi Pitzer

Stand: 29.08.2017 | Archiv

Ortsschilder Saarlouis, Dillingen | Bild: Montage: BR

Wenn ich mich im Auto meiner saarländischen Heimat nähere, kommen endlich wieder französische Töne aus dem Radio. Und der Saarländische Rundfunk und Radio Luxemburg - im letzeburger Kauderwelsch.

Hier, zwischen den Kleinstädten Saarlouis und Dillingen, bin ich fünf Kilometer von der französischen Grenze entfernt aufgewachsen. Die damals noch eine richtige Grenze war - Gitanes und Gauloises und Pastis gab es drüben viel billiger, haben wir trotzdem rübergeschmuggelt. Heute merkt man gar nicht mehr, dass man schon in Frankreich ist oder in Luxemburg, circa 50 Kilometer entfernt, nur die Straßenschilder sehen anders aus.

"Für uns ist das eine Selbstverständlichkeit, im Dreiländereck Luxemburg, Frankreich, Deutschland. Wir erfahren es als äußerst positiv, dass die Grenzen so offen sind und können es uns gar nichts anders vorstellen."

Franz-Josef Berg, Bürgermeister von Dillingen an der Saar

Dillingen an der Saar ist ein Mittelzentrum mit 20.000 Einwohnern, geprägt von den Hochöfen der riesigen Stahlhütte mit rund 5.000 Beschäftigten. Viele Pendler kommen aus Lothringen. Sie arbeiten nicht nur hier, sie kaufen auch ein - allerdings am liebsten im Großmarkt Globus im benachbarten Saarlouis.

"Der Globus spricht an manchen Tagen von fast 40 Prozent französischen Kunden. Im Schnitt sind es 25 Prozent, das wird auch vom Einzelhandel bestätigt. Und am 14. Juli ist Saarlouis die französischste Stadt Deutschlands, dann hören Sie hier nur Französisch."

Marion Jost, Bürgermeisterin in Saarlouis und Finanzdezernentin

Impressionen aus Saarlouis: Das Geburtshaus von Marschall Ney.

Am Nationalfeiertag in Frankreich kommen die Nachbarn gerne über die Grenze, um im Saarland einzukaufen, essen zu gehen oder zu feiern. Die Kreisstadt Saarlouis, die das Französische schon im Namen trägt, ist die bevorzugte Einkaufs- und Ausgehstadt.

Selbstverständlich zwischen den Ländern bewegen

Besuch bei einer alten Schulfreundin in Siersburg, ein Dorf wenige Kilometer entfernt. Ihre drei erwachsenen Töchter und zwei Schwiegersöhne sitzen um den großen Esstisch, alle Mitte 20 bis Mitte 30. "Ich habe viele französische Arbeitskollegen und auch bei uns im Chor sind ein paar Franzosen, die hier in der Schule arbeiten und den Kinder Französisch beibringen", erzählt eine von ihnen.

Die jungen Leute bestätigen das saarländische Lebensmotto: Hauptsach gut gess. Und zeigen, wie selbstverständlich es für sie ist, sich fast täglich zwischen Saarland, Frankreich und Luxemburg frei zu bewegen. Ähnlich geht es dem jungen Lehrerehepaar, das vor fünf Jahren aus Sachsen an die Saar gezogen ist.

"Das war für uns neu, dass ganz viel französisch gesprochen wird. Ich war begeistert, dass alles so offen ist. Man merkt gar nicht, dass man die Grenze überschreitet, das finde ich toll und das hat uns auch gereizt, ins Saarland zu kommen."

Rebecca Leipziger, Lehrerin

Dass nicht alles Gold ist, merkt das Paar, das an unterschiedlichen Schulen in Saarbrücken und Merzig arbeitet, manchmal an der Reaktion von Kollegen. "Sie sagen oft: Früher war Dillingen total schön, da war die Einkaufsmeile noch berühmter als die in Saarlouis, aber da ist jetzt ganz viel Leerstand, die Läden müssen schließen, weil die Kaufkraft fehlt - leider", erzählt Leipziger.

Viel Leerstand in der Innenstadt

In Dillingen gibt es auch viel Leerstand.

Ein Problem, das auch Dillingens Bürgermeister einräumt. Wenn man durch die Innenstadt geht, sieht man viele leerstehende Geschäfte und einiges an Ramschläden. Die Stadt hat Häuser aufgekauft, architektonisch gegengesteuert, so gut das bei den Beton-Bau-Sünden aus den 70er Jahren geht. Die Kleinstadt hat grenzüberschreitend einen Ruf als Gesundheitszentrum, mit vielen Ärztehäusern und Apotheken.

Ganz so trist ist es aber dann doch nicht. Dillingen hat ein Industriedenkmal aufgekauft und über mehr als ein Jahrzehnt zu einem beeindruckenden Kulturzentrum ausgebaut, mit millionenschwerer Unterstützung von Land, Bund und Europa: Den alten Lokschuppen, Bürgermeister Bergs ganzer Stolz, für Konzerte, Messen, Firmenfeiern. "Das ist ein sogenannter Ring-Lokschuppen. Der Bau begann um 1905 herum, es wurde immer wieder angebaut. Hier sieht man, die Loks fuhren über die Gleise ein und hier standen früher die Dampfloks", erzählt Berg.

Hohe Meinung von der EU

Die Dillinger Stahlhütte

Im Gegensatz zu vielen anderen Regionen in Europa haben meine Gesprächspartner im Saarland alle ein hohe Meinung von der EU und ihren Errungenschaften. Bei der Familie Neibecker in Dillingen geht es häufig sehr international zu.

"Bei der letzten Geburtstagsfeier waren neun Nationen im Haus - aus Deutschland, Frankreich, England, Italien, Spanien, Portugal, Polen, und Syrien und Peru. Ich habe auch eine türkische Freundin, sie war an dem Abend nicht da. Was die Politik in der Türkei betrifft, bin ich völlig anderer Meinung als sie. Aber wir verstehen uns trotzdem. Wir leben wirklich die europäische Gemeinschaft."

Beate Neibecker, gebürtige Dillingerin

Keiner meiner Gesprächspartner kann sich vorstellen, dass die Grenzen wieder kontrolliert oder gar hochgezogen werden. Die Saarlouiser Bürgermeisterin, Marion Jost, ist bei dem Gedanken regelrecht entsetzt.

"Das wäre für das Saarland ein Fiasko. Es gab ja schon erhebliche Diskussionen, als das mit der Maut losging, denn dann kämen die Franzosen nicht mehr zum Einkaufen. Alleine wenn ich den Lieferverkehr ansehe: Wnn da wieder Grenzkontrollen wären, das würde die Sache erheblich verteuern und behindern."

Marion Jost, Bürgermeistern Saarlouis

Ihr Bürgermeisterkollege Berg aus Dillingen pflichtet Jost bei: "Ich bin groß geworden mit der Freundschaft mit Frankreich und Luxemburg. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was dann aus unserer Region wird. Wir sind hier schon praktisch verschmolzen", meint Berg.

Wahlserie: Was bewegt Deutschland?

"Was bewegt Deutschland im Vorfeld der Bundestagswahl? Um diese Frage ein Stück weit beantworten zu können, haben sich fünf Kolleginnen in ihre Heimatorte aufgemacht, haben mit den Menschen dort gesprochen, um herauszufinden, was ihnen auf den Nägeln brennt.

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