"Wir leben in einem Gefäß und eigentlich leben wir in drei Lebensläufen: in denen unserer Eltern, die uns etwas erzählen, in unseren eigenen Lebensläufen und in denen unserer Kinder. Das ist ein Erzählraum, d. h. wir sind nicht abstrakt tätig in Zeitquanten von zehn oder 100 Jahren oder in einem Einjahresabschnitt. Nein, wir sind tätig in einem Lebenslauf. Diese Lebensläufe kann man einreichen: Dies muss man z. B. tun, wenn man sich irgendwo um eine Stelle bewirbt. Dann sieht man diese Lebensläufe von außen. Aber die Lebensläufe blicken auch zurück: Wenn ich hier Ihnen gegenübersitze, dann kann ich gucken wie ein Sechsjähriger oder ich kann meiner Altersklasse gemäß gucken. Das hängt übrigens nicht immer nur von meiner Willenskraft ab, sondern das geschieht wie von selbst. Das ist so etwas wie ein Haus oder wie eine zweite Haut, in der wir leben. Unsere Wirklichkeit prägt sich also durch Lebensläufe."

Alexander Kluge