Bildungskritik Jung, laut und demokratisch
Eine Gruppe junger Aktivisten versucht mit Kunstperformances, Musikvideos und Protestaktionen das deutsche Bildungssystem aus den Angeln zu heben und kämpft für mehr demokratische Mitbestimmung und politische Teilhabe junger Menschen. Sie nennen sich die „Demokratische Stimme der Jugend“. Ihre These: Wer schon in Schule und Uni lernt, mitzubestimmen und kritisch zu denken, wird es auch in der Gesellschaft tun.
Stell Dir vor, es ist Schule und jede*r will hin. Bunte Kreidebuchstaben auf dem Asphalt. Ein Herbsttag in der Stuttgarter Innenstadt. Ein paar Schritte weiter bohrt eine Gruppe junger Menschen dünne Holzbalken mit einer Bohrmaschine zusammen. Kurze Zeit später thront vor dem Stuttgarter Rathaus eine Art Holzwürfel. Eine junge Frau wickelt Frischhaltefolie um den Würfel. „Wir bauen hier gerade unseren Schulkäfig auf. Und dieses Plastik soll zeigen, wie isoliert wir uns gefühlt haben damals in der Schule.“, erklärt die 21-jährige Tracy Osei-Tutu. „Wir wollen heute darstellen, dass wir uns in der Schule oft irgendwie eingesperrt gefühlt haben.“, ergänzt ihr Kollege Simon Hoffmann.
Der "Schulkäfig"
Der „Schulkäfig“, so nennen sie den Würfel, steht heute im Mittelpunkt einer Kunstperformance. Eine Kunstperformance die dazu anregen soll, Schule neu zu denken und zu einem Ort zu machen, den SchülerInnen gerne besuchen. Veranstalter ist der Verein „Die Demokratische Stimme der Jugend e.V.“. Den gibt es seit zwei Jahren, der 23-jährige Simon ist einer der Gründer. Zur Schule gehen die meisten Mitglieder nicht mehr, jetzt sind sie Aktivisten. Regelmäßig versucht der Verein kreativ auf Missstände im Bildungssystem aufmerksam zu machen, durch Kunstperformances wie heute und mit provozierenden Songs und Musikvideos. So sollen junge Leute im Internet erreicht werden.
Rap-Songs als Kritik am Bildungssystem
Die Performance heute ist gleichzeitig auch ein Musikvideodreh. Simon wird dafür zum Rapper Courtier, sein Künstlername. Dafür trägt er ein Outfit ganz in weiß, seine wilden Locken sind lässig zusammengeknotet. Der Beat tönt durch den Lautsprecher, dann rappt er los:
"Ich bin ein junger Mensch und ich komm hier an,
um zu leben und dann treff ich auf euch.
Ihr erklärt mir die Welt, setzt mir eure Brille auf,
alles dreht sich um sich selbst, ihr missbraucht mein’ Lebenslauf.
Ich sehne mich nach Menschen und treffe auf Lehrer. Ich will die Welt entdecken,
ihr macht es mir schwerer. Ihr benotet mich, macht mich gehorsam,
macht mich fügsam, ihr überfordert."
(Courtier, Rapper)
Im Song wird das Schulsystem auseinandergenommen. Die SchülerInnen wirken wie gehorsame, überforderte Marionetten. Die LehrerInnen scheinen die natürliche Freude am Lernen zu unterdrücken. Aber was genau kritisiert der Verein eigentlich?
Kritikpunkt 1: Das Schulsystem ist unflexibel
Zunächst einmal, dass das Schulsystem starr und unflexibel sei. Der Lehrplan entscheidet, was zu welchem Zeitpunkt gelernt wird. Die Stundenpläne seien so vollgepackt, dass keine Zeit für tiefergehende Fragen bliebe. Nach 45 Minuten ist eine Unterrichtsstunde vorbei, die SchülerInnen blieben mit ihren Fragen alleine zurück. Deshalb fordert die „demokratische Stimme der Jugend“ flexible Unterrichtszeiten und vor allem: demokratische Teilhabe der SchülerInnen. In der Vision des Vereins sollen die nämlich mitbestimmen, was sie lernen möchten und wann.
Kiritkpunkt 2: Notendruck
Außerdem in der Kritik: der Druck, der durch Noten verstärkt werde. Das schaffe eine Hierarchie zwischen LehrerInnen und SchülerInnen, die positive Lernerfahrungen erschwere. Und dieser Druck werde mit der Zeit immer größer, um am Ende einen guten Abschluss zu machen, der vielleicht über den Rest des Lebens bestimme.
Eine zentrale Forderung der Aktivisten: das Abitur muss weg. „Da kommt immer von oben mit einem Abschluss der Druck rein, der das eigene zerstört. Wir brauchen neue Abschlussarten, wo kein Druck ist, wo es um Individualität geht.“, erklärt Simon. Wie eine neue Abschlussart aussehen könnte? Die „demokratische Stimme der Jugend“ denkt da an einen Bildungsbrief ohne Noten, dafür mit einem Blick auf individuelle Stärken.
Das Ziel: Mehr Flexibilität und Mitbestimmung
In ihrer Version sollen sich die SchülerInnen in der Schulzeit viel freier selbst entfalten können, eigenen Interessen nachgehen können und ihre Stärken individuell gefördert werden. Statt Einzelkämpfern, die im Unterricht in Konkurrenz stehen, soll laut Verein viel mehr in Teams zusammengearbeitet werden – auf Augenhöhe mit den LehrerInnen.
"Stell ich mich vor die und sag ihnen, was sie lernen sollen? Stell ich mich da hin und sage: so funktioniert’s? Oder lass ich sie mitgestalten. In der Schule wollen wir, dass Schüler mehr mitgestalten können, mehr Freiraum haben und genau das gleiche in der Gesellschaft. Dass die Stimme junger Menschen viel mehr Gehör findet in der Gesellschaft."
(Marianne Siebeck, Vereinsmitglied)
Spätestens jetzt wird klar, die „demokratische Stimme der Jugend“ hat eine größere Vision. Nicht nur das Bildungssystem wollen sie umkrempeln, sie denken größer. Die ganze Gesellschaft steht in der Kritik. Simon erklärt, dass die Konkurrenzsituation, die SchülerInnen in der Schule täglich erleben, sich negativ auf die Gesellschaft auswirke. Die Annahme ist, wer ist der Schule aktiv demokratisch mitgestaltet, wird auch in der Gesellschaft Verantwortung übernehmen – und eine bessere Welt mitgestalten.
Mehr Mitbestimmung für junge Menschen - auch außerhalb der Schule
Mehr demokratische Mitbestimmung für junge Menschen in der Politik steht deshalb auch auf der Vereinsagenda. Vor einem Jahr haben sie in Berlin zum „Aufstand der Jugend“ aufgerufen. In einer groß inszenierten Performance mit Schauspiel-und Tanzeinlagen forderten sie mehr Gehör. Politische Mitbestimmung in Form eines Jugendrats im Bundestag.
"Wir sind die Jugend von heute und die Gesellschaft von morgen. Und wir werden morgen die Verantwortung tragen für das, was ihr heute entscheidet."
(Musikvideo)
Die „demokratische Stimme der Jugend“ versucht mit viel Emotion und krassen Songtexten Aufmerksamkeit zu bekommen, zu provozieren. Aber es steckt mehr dahinter. Es wird nicht nur mit viel Pathos kritisiert, in Seminaren und Visionsrunden tauschen sie sich aus, sammeln Ideen und suchen nach konkreten Lösungen. Sie haben das Ziel, etwas Neues zu gestalten.
Zurück bei der Performance in Stuttgart. Zum Abschluss steht Simon eingesperrt und isoliert im mit Frischhaltefolie eingepackten „Schulkäfig“. Das große Finale. Mit voller Wucht durchbricht Simon das Plastik, reißt die Holzbalken zum Boden und zerstört das Konstrukt. Im Songtext heißt es: „Lasst etwas Neues aus der Asche entstehen. Ganz im Sinne des Phönix. Macht, dass es schön ist.“