Campus Doku Mangelware Freundschaft - Können wir ohne Freunde leben?
Immer mehr Menschen nutzen Soziale Netzwerke für die Beziehungspflege. "Freunde" sind wichtig für die soziale Anbindung und das eigene Image. Doch mangels Zeit und Verbindlichkeit wird echte Freundschaft für viele zur Mangelware. Können wir auch ohne Freunde leben?
Freunde sind wichtig
Campus Doku fragt Experten, wie es steht um die Freundschaftsfähigkeit und -möglichkeit in der heutigen Gesellschaft und stellt die Frage, wie wichtig die Beziehungskonstellation Freundschaft eigentlich ist. Eine Soziologin, ein Sprachwissenschaftler und ein Psychoanalytiker blicken aus ganz unterschiedlicher Perspektive auf das Phänomen Freundschaft, dem neuerdings wieder ein wachsendes Interesse auch in der Wissenschaft eingeräumt wird. Der Harvard-Professor Nicholas A. Christakis, laut Time heute einer der 100 einflussreichsten Köpfe der Welt, geht so weit zu behaupten, Freunde seien "das, was uns ausmacht".
Am Rand der Gesellschaft
Wenn Freundschaft Mangelware ist, dann dort, wo Menschen abgeschnitten sind vom normalen gesellschaftlichen Leben. Sei es innerlich oder sogar getrennt durch die Mauern einer Haftanstalt. Was passiert mit Freundschaft bei Menschen, zu denen die Gesellschaft auf Distanz geht? Rainer Kramny, ein ehemaliger Manager, betreut Menschen, die in Haft sind. Nach 12 Jahren ehrenamtlicher Tätigkeit, kennt er sich aus in diesem Grenzbereich der Gesellschaft und hat eine Vorstellung davon, was Freundschaft braucht, um zu wachsen, aber auch, wo sie an ihre Grenzen stößt.
Doch nicht nur Menschen in der Ausnahmesituation einer Haftanstalt haben es schwer mit der Freundschaft. In die Praxis des Hochschullehrers und Psychoanalytikers Prof. Dr. Andreas Hamburger kommen viele Menschen, die mitten in der Gesellschaft mit Beziehungsproblemen kämpfen. Viele seiner Klienten sprechen mit ihm über Probleme, die sie keinem Freund mitteilen können, weil sie letztlich Zweifel haben, ob es sich um wahre Freunde handelt. Nach den Erfahrungen des Psychoanalytikers ist Freundschaft tatsächlich heute für eine wachsende Zahl von Menschen Mangelware. Jedoch nicht, weil es an Kontakten mangel,t sondern weil Tiefe fehlt, die das Vertrauen erst ermöglicht.
Mangelware Freundschaft - Mitten in der Gesellschaft
Auch die Soziologin Dr. Ursula Nötzold, die an der Hochschule Landshut lehrt und seit Jahrzehnten zum Thema Freundschaft forscht, bestätigt die These, dass ein möglicher Mangel an Freundschaft heute in der Regel nicht auf einem Mangel an Kontakten gründet. Sondern vielmehr auf ein Zuviel an Kontakten und der damit verbundenen Überforderung, damit adäquat umzugehen. – Sie sieht jedoch auch einen positiven Trend. Die Vorstellung von Freundschaft ist im Wandel, weg von einem überhöhten Freundschaftsideal hin zu alltagstauglichen, lebbaren Freundschaften. – Die können nämlich auch aus Interessensgemeinschaften entstehen und zwar dort, wo sich die Menschen im Alltag begegnen, sei es in der Arbeitswelt oder in der Freizeit. Zweckbündnisse, aus denen Freundschaften werden können, ohne dass anfangs die Latte zu hoch gelegt wird. – Das, so Ursula Nötzold, ist gerade auch für Menschen eine Option, die feststellen, dass in der Lebensmitte Freundschaft zur Mangelware geworden ist.
Zum Beispiel der Arzt Rene Vogelsang: Bis vor 15 Jahren hatte er in einer Klinik in der Nähe von München als Chirurg gearbeitet. Dann machte er einen Schnitt, zog aufs Land und übernahm eine Praxis in der Holledau. Seitdem ist er sein eigener Chef, hat mehr Gestaltungsmöglichkeit im Beruf und kann sich mehr Zeit für seine Patienten nehmen. Aber das hatte auch seinen Preis. Denn durch den Umzug in ein ganz neues Umfeld hat er alte Freunde aus dem Auge verloren und sich schwer getan, neue zu finden. Obwohl der Landarzt beliebt ist und viele Kontakte hat, ist es ihm nicht gelungen, die Lücke, die der Verlust zweier verstorbener Freunde hinterlassen hat, durch neue Freundschaften zu schließen. Praxis, Hausbesuche, Büroarbeit, oft sind es ganz lapidare Gründe, die Freundschaft gefährden oder ihr Entstehen behindern können. Rene Vogelsang geht es da wie vielen in der Lebensmitte, die erfolgreich im Beruf sind, denen aber neben Job und Familie in der "rushhour of life" kaum mehr Zeit und Kraft für anderes bleibt. Und Freundschaft braucht Zeit.
Freundschaftsbegriff im Wandel
Seit dem Neustart von Rene Vogelsang auf dem Land, ist Teamarbeit groß geschrieben, zunächst mit seiner Frau und dann mit den heranwachsenden Kindern. Alle ziehen an einem Strick, um gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen. Ein freundschaftlicher Umgang der Familienmitglieder untereinander, haben Forscher herausgefunden, ist besonders bei Patchworkfamilien zu beobachten. Denn freundschaftliche Beziehungen funktionieren dort in der Regel besser als das Festhalten an Rollenmustern. Das bestärkt auch die These von Ursula Nötzold, dass Freundschaft immer mehr zur adäquatesten Form/ zur optimalen Beziehungsform in der individualistischen Gesellschaft wird.
Beim Forschungsansatz der Soziologin Dr. Nötzold steht Freundschaft immer auch in Bezug auf den gesellschaftlichen Hintergrund. So ist ist das gewandelte pragmatische Freundschaftsverständnis von heute kompatibel mit sich wandelnden Lebensumständen. Doch ein noch immer weit verbreitetes Statusdenken erschwert Freundschaften - auch für Rene Vogelsang. Als Arzt auf dem Land genießt er hohes Ansehen, doch seine berufliche Position ist eher eine Hemmschwelle für das Entstehen neuer Freundschaften und macht es schwierig, sich auf Augenhöhe fühlen. Inzwischen trifft er sich regelmäßig mit Kollegen aus dem Landkreis. Was zunächst als Zweckbündnis gestartet war, daraus sind inzwischen freundschaftliche Beziehungen gewachsen.
In der Freundschaft sieht die Soziologin Nötzold auch deshalb die passende Beziehungsform für die heutige Zeit, weil sie dem individualistischen Zeitgeist entspricht. Freundschaft beruht auf Freiwilligkeit. Sie kommt zustande, wenn genügend Übereinstimmung und Sympathie vorhanden sind. Und gleichzeitig ist sie durch ihr Freiheitspotential auch einem Risiko ausgesetzt. Denn sie kann jeder Zeit auch wieder gekündigt werden.
Der Kult um die beste Freundin
Am Rande zu stehen, dieses Risiko macht gerade jungen Menschen Angst. Für Jugendliche ist es enorm wichtig, dazu zu gehören. Jugendliche verbringen heute immer mehr Zeit außerhalb der Familie, unter Gleichaltrigen. Somit wird die Gruppe immer wichtiger. Und eine besondere Bezugsperson innerhalb der Gruppe, allem voran in der Klassengemeinschaft.
Das gehört zum Hintergrund für ein Phänomen, das Medienwissenschaftler den "Kult um die beste Freundin" nennen. Studien zum Verhalten von Mädchen zwischen 12 und 16 Jahren an der Universität München zeigen einen deutlichen Trend, sich und die beste Freundin immer stärker durch Filme, Fotos und Kommentare im Netz zu inszenieren. So wird die Freundschaft zur Schau gestellt und bestätigt. Was zwischen Kindheit und Pubertät für Mädchen auch früher schon üblich war, eine enge Verbindung mit der besten Freundin, hat sich mit dem Aufkommen von Foto-Handys und boomenden sozialen Netzen zu einem regelrechten Kult entwickelt. Im virtuellen Raum gehört Freundschaft inzwischen zur öffentlich dargestellten Identität. Der Sprachwissenschaftler Martin Voigt erforscht im Rahmen seiner Doktorarbeit diesen Freundschaftskult. Er analysiert Beziehungsmuster von Mädchenfreundschaften anhand von Texten, Zeichen und Bildern. Ihn fasziniert die Frage, was mit Freundschaften passiert seitdem es Soziale Netzwerke gibt. Ändert sich hier etwas am Wesen der Freundschaft, wenn sie ständig im Rampenlicht steht? Oder ist das eher ein Hype ohne Auswirkungen im realen Leben, der bald wieder vorübergeht?
Anna und Michelle sind beste Freundinnen. Mit 13 sind sie in dem Alter, in dem viele an dem Kult um die beste Freundin teilnehmen. Doch Michelle und Anna führen eine Freundschaft, in der das Netz keine Rolle spielt, denn Anna darf nicht bei facebook mitmachen. Wenn sie sich treffen, machen sie auch manchmal Fotos, die Michelle dann an Freunde verschickt. Aber sie haben keine Zeit, ständig zu posten, was sie gerade so treiben. Denn sie wollen Zeit für sich haben, Zeit, etwas zu unternehmen, Eis essen zum Beispiel. Es gibt sie also noch, die Freundschaft nach alten Mustern. Doch auch die Freundschaften, die im Netz inszeniert werden, sind für die Mädchen echt, sagt Martin Voigt. Die virtuelle Freundschaftswelt ist für sie so real wie der Gang ins Klassenzimmer.
Literatur
- Nötzold-Linden, Ursula (1994): Freundschaft. Zur Thematisierung einer vernachlässigten soziologischen Kategorie. Opladen: Westdeutscher Verlag
- Karl-Hein Renner, Astrid Schütz u.a. (Hrsg.): Internet und Persönlichkeit. Differentiell-psychologische und diagnostische Aspekte der Internetnutzung. Hofgrefe Verlag, Göttingen 2005
- Eberhard, Hans Joachim & Krosta, Arnold (2004): Freundschaften im gesellschaftlichen Wandel. Eine qualitativ-psychoanalytische Untersuchung mittels Gruppendiskussionen. Wiesbade: Deutscher Universitäts-Verlag
- Jo Bausch: Knast. Ullstein Verlag. Berlin 2012