Studentenproteste in der Türkei Eine Uni unter Beschuss
In Istanbul protestieren Studierende gegen die Einsetzung eines regierungsnahen Rektors durch den Staatspräsidenten. Er wolle dadurch kritische Stimmen auf Linie bringen, so die Befürchtung. Der Staat geht hart gegen die Demonstranten vor und unterstellt ihnen Terrorismus.
So hat er sich sein erstes Semester nicht vorgestellt, erzählt Geschichtsstudent Tatul. Corona und nun das: Der Eingang seiner Universität gleicht einem Gefängnis. Gepanzerte Fahrzeuge, mehrere Dutzend Polizisten und Absperrungen rund um das Campus-Gelände.
Studierende der Boğaziçi-Universität protestieren.
Seit Anfang Januar 2021 protestieren Studierende seiner Universität, der Istanbuler Boğaziçi-Uni. Auslöser war die Ernennung eines neuen Rektors - direkt bestimmt vom türkischen Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan. Der neue Rektor gilt als regierungsnah, kandidierte schon einmal für Erdoğans Partei AKP fürs Parlament. Studierende wie Tatul fürchten, die Regierung wolle die Universitäten auf Linie bringen.
Die Einmischung in die Arbeit der Hochschulen in der Türkei hat seit 2016 stark zugenommen. Nach dem Putschversuch gab es eine Entlassungswelle an türkischen Universitäten.
Akademiker, die Kritik an der Regierung übten, wurden mit dem Pauschalverdacht Terrorismus belegt.
Prof. Üstün Ergüder war acht Jahre lang Rektor an der Boğaziçi-Universität, in den 1990er Jahren. Er wurde hochschulintern gewählt. Mit Sorge blickt er auf die derzeitige Situation.
"Eine Universität ist das Gehirn einer Gesellschaft. Sie muss kritisch denken und hinterfragen können. Ich würde mir wünschen, dass die Regierung sich fragt: Weshalb reagieren die Studierenden und Dozenten jetzt so? Lasst uns miteinander sprechen. Aber das passiert leider nicht, stattdessen gibt es diverse Anschuldigungen. Sie sagen: Das sind Terroristen."
Prof. Üstün Ergüder
Anschuldigungen gab es in den vergangenen Wochen zahlreiche. Mehrmals wetterte der türkische Staatspräsident öffentlich gegen die Studierenden. „Seid ihr wirklich Studenten? Oder seid ihr welche, die versuchen das Büro des Rektors zu stürmen und es zu besetzen, also Terroristen?“ schimpfte er Anfang Februar auf einer Großveranstaltung seiner Partei.
Die Polizei schoß mit Tränengas und Gummigeschossen auf demonstrierende Studierende.
Die Kundgebung der Studierenden am nächsten Tag wird hingegen verboten - wegen Corona heißt es. Hunderte Menschen kommen dennoch. Ihnen stehen hunderte Einsatzkräfte gegenüber. Es kommt zu wilden Szenen: Die Polizei schießt mit Tränengas und Gummigeschossen in die Menge. Die Studierenden flüchten sich in die engen Gassen. Auch Student Tatul ist dabei: „Wegen dieses Druckes auf uns sind wir heute alle hier. Der Rektor muss endlich zurücktreten, wir werden keine Staatsaufsicht akzeptieren. Ich muss weiter!“, ruft er und rennt davon. Hinter ihm die Polizei. An diesem Abend kommt es zu mehr als 90 Festnahmen, gegen einige Studierende werden Ermittlungen eingeleitet.
Der Abgeordnete Ahmet Şık war selbst bei der Protestaktion, wurde dort von Polizisten grob angefasst. „Das ist leider nichts Neues“, stellt er fest. Şık ist parteilos, seit 2018 sitzt er im Parlament, davor arbeitete er als Journalist, er gehört zu den bekanntesten im Land. Wegen seiner Arbeit saß er schon im Gefängnis. Den Protest der Studierenden unterstützt er.
„Aufwiegelung zu Unruhen“ lautet der Vorwurf gegen ihn. Ahmet Sik meint, die Regierung versuche nun die eigene Anhängerschaft gegen die Studierenden aufzubringen, indem sie Feindbilder schaffe. Denn auch innerhalb der eigenen Wählerschaft gibt es Kritik am Vorgehen gegen die Studierenden.
Ein gefundenes Fressen war da die Kunstaktion einiger Studierenden auf dem Campus. Ein Bild zeigte die Kaaba in Mekka, zentrales Heiligtum im Islam. Daneben die Regenbogenflagge. Der Innenminister, bekannt als Hardliner sieht das als Verunglimpfung des Islam. Auf Twitter schrieb er, man habe „vier abartige LGBTler festgenommen“. Sein Tweet wird von Twitter daraufhin wegen Hatespeech gesperrt.
Student Tatul verliert immer mehr die Hoffnung, erzählt er. Zwar sei er fest entschlossen, weiter zu protestieren, doch zeitgleich sucht er nach einem Weg raus aus der Türkei.
"Ich sehe meine Zukunft nicht mehr in der Türkei. Ich habe mich an verschiedenen Unis im Ausland beworben. Wenn ich Glück habe, nehmen sie mich, dann bin ich hier weg."
Tatul, Geschichtsstudent
"Egal wie oft uns Erdogan als Terroristen bezeichnet. Viele Menschen in der Türkei wissen, dass einige Absolventen der Boğaziçi das Land voranbringen werden. Sollte die Türkei also uns Studenten alleine lassen, schießt sie sich ins eigenen Knie."
Utku, Student
„Es tut mir leid für mein Land“ lautet mittlerweile ein Hashtag auf Twitter.
Studierende, teils die besten ihres Jahrgangs, erzählen, dass sie ans Auswandern denken, weil sie sich in der Türkei nicht mehr verstanden und erwünscht fühlen. Ein Staat, der gegen den eigenen Nachwuchs kämpft, ist für viele keine Option.