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Sechs Thesen zum Brexit Heilige Kühe in Hinterzimmern
Was ist da auf der Insel eigentlich passiert? Was lässt sich daraus folgern? Und was verrät es über die Demokratie in Europa anno 2016? Sechs Thesen zum Brexit.
Von: Michael Kubitza
Stand: 27.06.2016 |Bildnachweis

Nachrichtensplitter einer Woche: In Österreich streiten ein Grüner und ein FPÖ-Mann vor Gericht um das Präsidentenamt. In Rom macht ein politischer Erdrutsch eine Frau zur Bürgermeisterin, die kaum politische Erfahrung hat und von der Protestbewegung eines Fernsehkomikers getragen wird. Großbritannien verabschiedet sich nach 43 Jahren aus der EU. Donald Trump wird 45. Präsident der USA - nein, das doch (noch) nicht. Klar ist aber: Das Undenkbare ist nicht "unpassierbar". Das erinnert an Tschernobyl, ist aber kein Gau, sondern allenfalls ein Störfall der Demokratie. Schon knapp zwei Prozentpunkte mehr Begeisterung für Europa hätten gereicht, und die Briten wären "in".
Eigentlich, sagt Michael Dobbs, sei er ein passionierter Europäer. Der Autor der Buchvorlage von "House of Cards" sitzt heute im "House of Lords" und ist ein kluger Konservativer. Zum Umdenken gebracht hat Dobbs 2015 die Aussage eines anderen Konservativen - Wolfgang Schäuble, der auf dem Höhepunkt der Grexit-Krise postulierte: "Wahlen ändern nichts."
Die behauptete "Alternativlosigkeit" von Entscheidungen hat das ohnmächtige Gefühl erzeugt, "die in Brüssel" täten sowieso, was sie wollten, hat die EU-Gegner munitioniert und die EU-Freunde in Erklärungsnöte gebracht. Der wichtigste Slogan der Brexiteers wirkt wie eine Antwort auf Schäuble: "Take control".
Wer folgert, über wichtige Dinge dürfe man das Volk eben nicht abstimmen lassen, hat im konkreten Fall wohl recht: Ein Plebiszit als Generalabrechnung mit der EU, dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest überreizt die Möglichkeiten der direkten Demokratie. Dennoch: Der Brexit wird die EU nicht umbringen. Das Auskarten wichtiger Entscheidungen in den Hinterzimmern eines schwer durchschaubaren Brüsseler Politgeflechts aus EU-Kommission, -Parlament und europäischem Rat, aus Bürokratie und Lobbyismus auf Dauer schon.
Es geht um die Wirtschaft, Depp - mit diesem Motto kam 1993 Bill Clinton an die Macht. Seit sich immer mehr Menschen vom wachsenden Wohlstand abgekoppelt sehen, ist das nicht mal mehr die halbe Wahrheit. Die geballte Meinungs- und Mahnungsmacht von IWF, Konzernen, Ratingagenturen und Experten konnte 51,9 Prozent der Briten nicht überzeugen.
Das "Project Fear" (Boris Johnson) der EU-Treuen hat zu viele Fragen von Einwanderung bis Wohnungsmarkt nicht wirklich beantwortet. Exemplarisch die Ergebnisse in London: je mehr man sich vom reichen Zentrum in die weniger wohlhabenden Außenbezirke vor allem im Osten des Großraums bewegt, umso mehr nimmt die Zustimmung zu Europa ab. Merke: "Die Märkte" zu beruhigen ist noch keine Vision für Europa.
350.000.000 Euro: soviel zahle Großbritannien jede Woche an die EU, hämmerten die EU-Gegner den Briten ein. Eine Summe, die schon deshalb falsch ist, weil sie die EU-Subventionen für Großbritannien nicht mitrechnet - weshalb Nigel Farage seine Versprechungen, was man mit mit den Millionen anfangen könne, Stunden nach Bekanntgabe des Brexit wieder kassierte. Eingeschlagen hat die Zahl.
Genau wie Boris Johnsons Aussage, er fürchte keine Zollbeschränkungen, schließlich ginge jedes fünfte in Deutschland produzierte Auto nach GB. Eine wacklige Schätzung, die aber wirkte. Bezeichnend auch, dass ausgerechnet südenglische Fischer und walisische Bauern, die überdurchschnittlich von EU-Mitteln profitieren, überdurchschnittlich gegen die EU votierten.
Ein Grund: Die immer schwerer zu beherrschende Informationsflut und die daraus resultierende Aufsplitterung des Diskurses in den sozialen Medien, deren Filterblasen ähnlich funktionieren wie ein Stammtisch in walisischer Provinz. Ein anderer: Die mangelnde Überzeugungskraft von "Bremain"-Kampagneros wie David Cameron und Jeremy Corbyn. Denn Recht haben reicht nicht, um Recht zu behalten.
Beispiel David Cameron: Statt nach dem begeistert begrüßten EU-Beitritt von Bulgarien und Rumänien den Zuzug von Arbeitskräften vorläufig auszusetzen, wie das in Deutschland passierte, holte der Premier sie gern ins Land. Sein markiges Wahlversprechen, den Zuzug zu begrenzen, hielt er nicht ein. Stattdessen schob er seine Fehlkalkulation der EU in die Schuhe - zu deren Verteidigung er danach antreten musste. Ein fatales Doppelspiel, das nicht nur der britische Premier betreibt. Merke: Wer den Sündenbock über Nacht zur heiligen Kuh erklärt, braucht für den Spott der Metzger nicht zu sorgen.
Wider Erwarten: Der Breakfast Tea schmeckt fünf Tage nach dem Big Bang fast wie immer, auch die Britpop-Platten stehen noch im Schrank. Und Großbritannien ist nicht die Welt, sondern eine zur Insel geschrumpfte Ex-Weltmacht am Rande Europas, die auch nach dem Referendum keinen Schimmer hat, was sie mal werden will. Wirklich entscheidend wird sein, dass die übrigen 27 EU-Länder es für sich herausfinden, und wie sie sich dann dazu verhalten. Die Welt geht nicht unter, macht aber viel Arbeit.
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Stefan gebauer, Dienstag, 28.Juni 2016, 07:13 Uhr
1. Klare Ansage
Guter Kommentar! Sehr gut analysiert und erläutert, ich sehe das genauso.
Antwort von G.W., Dienstag, 28.Juni, 07:32 Uhr anzeigen
Vielelicht ist das ja Sinn der Sache? Einfach applaudieren?