Dramatische Flucht Die Odyssee des kleinen Saman
Fünf Wochen Flucht vom Iran durch sieben Länder zur Behandlung nach München: Der schwerkranke Saman hat es geschafft - mit Unterstützung der ARD. In ihrer Reportage berichtet Hilde Stadler über einen ungewöhnlichen Hilfseinsatz.
23. September 2015, Aufnahmelager Opatovac (Kroatien)
Ich sitze im BR-Übertragungswagen, telefoniere mit ARD-Aktuell in Hamburg, bespreche mit den Kollegen unsere nächste Live-Schalte. Daniel, der SNG-Techniker, tippt mich an: Ein Mann will mich sprechen. Es sei sehr wichtig, übersetzt ein freiwilliger Helfer, der ihn begleitet. Hossein Kowsari ist aus dem Iran geflohen wegen seines schwerkranken Sohnes Saman. Die "Ärzte ohne Grenzen" am Aufnahmelager Opatovac hatten sofort veranlasst, dass der achtjährige Saman in ein örtliches Krankenhaus eingewiesen wurde, zusammen mit der Mutter. Hossein indes musste mit seiner 11-jährigen Tochter Solmaz am Aufnahmelager zurückbleiben.
"Der Gesundheitszustand von Saman hat sich auf der Flucht sehr verschlechtert. Er hat überall offene Wunden. Besonders schlimm war es in dem überfüllten Schlauchboot, mit dem wir nach Griechenland fuhren."
Hossein Kowsari
Und er zeigt mir Fotos von Saman, die mich und unser ganzes Team erschüttern. Der Körper des Achtjährigen sieht aus, als ob er schwerste Brandverletzungen erlitten hat. Doch Hossein Kowsari erklärt mir, dass es sich um eine Erbkrankheit handle, die nicht ansteckend sei. Er schreibt den Namen der Krankheit auf einen Zettel. Und er bittet mich um Hilfe für seinen kleinen Sohn.
Seit zwei Wochen berichte ich über die Flüchtlingskrise, zuerst aus Röszke in Ungarn, danach aus Kroatien - aus dem kleinen Grenzort Tovarnik und jetzt vor dem Aufnahmelager Opatovac, wo ständig Busse vorfahren mit Flüchtlingen, die über die nahe serbische Grenze nach Kroatien gelangt sind. In langen Schlangen warten sie auf Einlass in das Aufnahmelager, werden versorgt von Helfern des Roten Kreuzes, des UNHCR, der Ärzte ohne Grenzen und von vielen Freiwilligen, die aus ganz Europa hierhergekommen sind, um zu helfen.
Immer wieder habe ich mit Flüchtlingen gesprochen - sie gefragt woher sie kämen, warum sie geflohen seien, wohin sie wollten. Einige konnten Englisch, übersetzten für andere. Ich hörte Geschichten von Krieg, Tod und Verfolgung. Ich sah in Gesichter, die von Erschöpfung gezeichnet waren und gleichzeitig von verzweifelter Entschlossenheit. Ich sprach mit jungen Männern aus Pakistan und Afghanistan, die Angela Merkel und mich mit lautstarken „We love you“-Rufen hochleben ließen, als sie erfuhren, dass wir aus Deutschland sind. Deutschland, ihr Wunschziel! Ich sprach mit Familien aus Syrien, aus dem Irak, die in brütender Hitze am Straßenrand saßen, ihre Kinder vollkommen erschöpft und dehydriert. Kinder im Ausnahmezustand.
Es ist eine kräftezehrende Berichterstattung, die nicht spurlos an mir vorbei geht. Als Journalistin muss ich meinen Job machen: recherchieren, die aktuelle Lage erläutern, Entwicklungen, Eskalationen einschätzen, Zahlen nennen und politische Hintergründe. Ich muss funktionieren, so wie meine Kollegen. Durch unsere Berichte erfahren die Zuschauer (auch Politiker!) in Deutschland und anderswo, was für eine humanitäre Krise sich im kroatischen Grenzgebiet ereignet. Eine Berichterstattung, die etwas verändern kann; ich hoffe zum Besseren! Gleichzeitig sind wir alle auch Menschen mit Empathie, sehen und erfahren aus nächster Nähe die Not und das Leid so vieler Flüchtlinge. Doch anders als Mitarbeiter von Behörden und Hilfsorganisationen sind wir „nur“ Beobachter. Nicht selten eine Gratwanderung.
Das Gesicht des kleinen Saman mit seinen ausdrucksvollen Augen und seinen furchtbaren Wunden geht mir nicht mehr aus dem Kopf.
Ich recherchiere im Internet und maile Fotos von Saman sowie den Namen der Krankheit mit der Bitte um Informationen an das Klinikum der Universität München, zu dem ich Kontakte habe. Die Antwort der Ärzte kommt schnell: Epidermolysis Bullosa (EB), eine seltene, unheilbare dermatologische Erbkrankheit, bei der durch das Fehlen bestimmter Proteine der Zusammenhalt der einzelnen Hautschichten gestört ist. EB beeinträchtigt nicht die Intelligenz, ist nicht ansteckend, doch äußerst schmerzhaft für die Betroffenen, die man „Schmetterlingskinder“ nennt, weil ihre Haut so zart wie Schmetterlingsflügel ist und beim geringsten Druck Blasen und Wunden bildet. Eine spezielle medizinische Behandlung kann die Schmerzen und neue Blasenbildungen verringern, die Lebensqualität entscheidend verbessern. Am Klinikum der Universität München gibt es Zentren, die auf die Behandlung und Erforschung solcher seltener Erbkrankheiten spezialisiert sind. Man könnte Saman in München behandeln.
26. Sptember 2015, Zagreb
Saman wurde mittlerweile nach Zagreb in die Kinderklinik verlegt, zusammen mit seiner Mutter. Wir erreichen über Kontakte zum kroatischen Innenministerium, dass Hossein Kowsari und seine Tochter Solmaz vom Aufnahmelager Opatovac nach Zagreb zu Saman fahren können. Das Wiedersehen der Familie in der Kinderklinik in Zagreb dürfen wir filmen. Die große Kamera weckt Samans Interesse. Er spricht zwar kaum, aber umso lebhafter verfolgen seine Augen alles, was um ihn herum passiert. Vater Hossein erklärt uns, dass fremde Menschen Saman verunsichern. Er könne es nicht leiden, wenn er angestarrt werde - was oft geschieht. Kinder hätten aus Angst vor Ansteckung nicht mit Saman spielen wollen. Seine 11-jährige Schwester Solmaz war Samans einzige Spielgefährtin und eine große Stütze für Mutter Neda.
Wir machen ein längeres Interview mit Hossein, wollen wissen, wie die Familie im Iran gelebt hat. Hossein erzählt von Samans Geburt vor acht Jahren, als die Ärzte ihm eröffneten, dass sein Sohn an einer seltenen unheilbaren Krankheit leidet. Er sollte zustimmen, dass die Ärzte die Qualen seines Kindes beenden, Saman ein tödliches Medikament verabreichen.
"Ich habe schließlich ein Dokument unterschrieben und den Ärzten gegeben, damit sie alles in die Wege leiten. Dann wollte ich mich von meinem Kind verabschieden. Als ich mein Baby sah, lächelte es mich an. Da war es um mich geschehen. Ich habe dem Arzt das Dokument aus der Hand genommen und es zerrissen. Und ich bin glücklich und dankbar, dass ich das gemacht habe."
Hossein Kowsari
Hossein Kowsari kämpft mit den Tränen. Auch unser Filmteam ringt mit der Fassung. Ruhig schildert Hossein, wie die Familie versucht habe, den Alltag mit ihrem behinderten Kind zu bewältigen. Er erzählt von Ausgrenzung, die sie erleben mussten und von freiwilliger Isolation, um Saman vor entsetzten Blicken fremder Leute zu bewahren. Und er berichtet über seine mehrjährige Odyssee, um für Saman eine Behandlung im Ausland zu erreichen: seine Anträge an die iranische Gesundheitsbehörde, seine vergeblichen Gesuche an die Botschaften mehrerer europäischer Länder. Am Ende sah er nur noch einen Ausweg: die Flucht.
Inzwischen ist die deutsche Botschaft in Zagreb eingeschaltet, das Auswärtige Amt informiert, dass es eine Behandlungszusage für Saman vom Münchner Uniklinikum der LMU gibt. Mit Geldern der "Deutschen Stiftung Kinderdermatologie" und der "Care for Rare" Stiftung sowie mit Spenden, auch von Exil-Iranern, soll Samans Behandlung finanziert werden. Doch offenbar bedingt durch die politische Großwetterlage, berufen sich die Behörden strikt auf die Formalien. Hossein Kowsari müsse nach der geltenden EU-Verordnung (Dublin-III) Asyl in Kroatien beantragen. Erst danach könne er einen Visumsantrag für Deutschland stellen, den man prüfen werde.
Nach dieser Auskunft entschloss sich Hossein Kowsari, mit seiner Familie die Flucht über die Balkanroute fortzusetzen. Unser Team filmte, wie die Familie nach Opatovac ins Aufnahmelager zurückkehrte und in einem Bus Richtung ungarische Grenze abfuhr, ins Ungewisse.
14. Oktober 2015, Zagreb
Ich erhalte einen Anruf vom Roten Kreuz aus Österreich. Ein RK-Mitarbeiter teilt mir mit, Familie Kowsari sei im Aufnahmelager Nickelsdorf im Burgenland angekommen. Der kranke Junge werde von einem Notarzt versorgt. Ich bin erleichtert über dieses Lebenszeichen. Es folgten viele Telefonate, Mails und persönliche Gespräche, gleichzeitig Überlegungen, wie wir verhindern, dass wir, die Saman helfen wollen, als Schleuser belangt werden. Ergebnis: In einer konzertierten Aktion zwischen Ärzten, Sanitätern, verständnisvollen Sachbearbeitern diverser Behörden, die namentlich nicht genannt werden wollen, und meinen BR/ARD-Kollegen gelang es schließlich, Saman und seine Familie noch in der Nacht nach München zu bringen.
15. Oktober 2015, München
Mit Plüschtieren sitzt Saman in einem Bett im Haunerschen Kinderspital, lächelt uns an, als wir filmen. Die Kamera ist er inzwischen fast gewohnt. Die Ärzte wollten Samans Verbände wechseln. Trotz Schmerzmittel tut ihm das so weh, dass er bitterlich weint und die Ärzte abbrechen. Er brauche stärkere Schmerzmittel. Sein ganzer Körper ist eine einzige große Wunde. Dr. Kathrin Giehl, die behandelnde Ärztin, sagt mir im Interview, sie habe als Dermatologin schon einige Kinder mit schlimmen Hautkrankheiten gesehen, aber der Zustand von Saman würde sie trotzdem erschüttern. Sie sei sehr froh, dass er jetzt in der Uniklinik München ist und hofft, dass sie ihn dort bald wieder aufpäppeln können.
"Wir wollen herausfinden, was die Ursache ist, wo der genetische Webfehler ist. Dazu wird das Epidermolysis Bullosa-Zentrum in Freiburg mit uns kooperieren und auch eine Analyse machen. Man nennt das Immunfluoreszenz, wo genau geschaut wird, an welcher Stelle der Defekt ist. Das werden wir Anfang nächster Woche veranlassen. Und daraufhin werden wir auch den Webfehler in den Genen anschließend suchen."
Dr. med. Kathrin Giehl, Zentrum für seltene und genetische Hautkrankheiten, Klinik und Poliklinik für Dermatologie und Allergologie am Klinikum der Universität München
Die fünfwöchige Flucht der Familie Kowsari vom Iran durch sieben Länder nach Deutschland hat in München ein kleines Happy End gefunden. Und wir alle sind glücklich, dass wir dem kleinen Saman helfen konnten.