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Chronik des G36-Skandals Pannengewehr wird zur Politaffäre

Zunächst steht das G36 Bundeswehr-intern in der Kritik. Es folgen Strafanzeigen und dubiose Prüfberichte. Am Ende stehen zwei Minister gehörig unter Druck - auch durch Recherchen von BR und SWR.

Von: Ernst Eisenbichler

Stand: 08.09.2015

  • September 2009
    Bundeswehrsoldat mit G36 nahe Kundus in Afghanistan | Bild: picture-alliance/dpa

    Bundeswehrsoldat mit G36 nahe Kundus in Afghanistan

    September 2009

    Mängel schon seit Jahren bekannt

    Bundeswehr-intern sind die Mängel am G36 offenbar schon lange bekannt. So stellt der Teamführer des 3. Kampfschwimmereinsatzteams im September 2009 in einer dienstlichen Meldung fest: "Diese Sicherheitsmängel der Waffe G36 sind erstmals während der Vorbereitung auf den Afghanistaneinsatz im September 2008 beobachtet worden und traten abermals im Einsatz auf (…) Folglich lehne ich eine zukünftige Verwendung der Waffen und die damit verbundene Verantwortung kategorisch ab." Trotzdem läuft die Kooperation der Bundeswehr mit Heckler & Koch weiter.

  • Januar 2011
    Ein Mann hält ein Sturmgewehr G36 von Heckler und Koch in die Höhe am 07.05.2015 in Oberndorf (Baden-Württemberg) in der Firmenzentrale. | Bild: picture-alliance/dpa

    G36

    Januar 2011

    Anonyme Strafanzeige

    Am 21. Januar 2011 liegt dem Referat "Ermittlung in Sonderfällen" des Verteidigungsministeriums eine anonyme Anzeige vor, die Mängel der G36-Gewehre darlegt. Das haben Recherchen von BR und SWR aufgedeckt. Die Staatsanwaltschaft Rottweil nimmt nach dem anonymen Hinweis Ermittlungen wegen Betrugs auf, stellt aber das Verfahren am 1. August 2011 ein, da der Vorwurf nach über zehn Jahren verjährt gewesen sei. Das Verteidigungsministerium hatte der Staatsanwaltschaft jedoch möglicherweise nicht sämtliche Verträge zur Verfügung gestellt.

  • November 2011
    Razzia bei Heckler & Koch am 10. November 2011 | Bild: pa/dpa/Michele Danze

    November 2011

    Razzia in Oberndorf

    Am 10. November 2011 rücken 300 Polizeibeamte auf dem Firmengelände von Heckler & Koch in Oberndorf an. Der Grund sind Ermittlungen wegen angeblicher Bestechung, mit der sich die Firma die Ausfuhrgenehmigung von G36-Gewehren für Mexiko erkauft haben soll. Heckler & Koch weist die Vorwürfe zurück. Bereits im Dezember 2010 gab es eine Razzia wegen des Verdachts auf Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz - ebenfalls im Zusammenhang mit G36-Gewehren, die in Mexiko aufgetaucht waren.

  • März 2012
    Kernaussage G36 | Bild: Deutsche Bundeswehr

    Kernaussage der Ministervorlage vom 20. März 2012 zum G36, die BR und SWR vorliegt

    März 2012

    Verteidigungsminister wohl schon lange informiert

    Über die Mängel muss Ex-Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) im März 2012 informiert gewesen sein. Das belegen als geheime Verschlusssache eingestufte Dokumente, die BR und SWR vorliegen. Demnach hat die für die Prüfung des G36 zuständige Abteilung im Verteidigungsministerium, Rü V 4, in einem internen Schreiben für de Maizière festgehalten: "Alle bisher untersuchten G36 zeigen eine Veränderung des mittleren Treffpunkts und eine Aufweitung des Streukreises derart, dass ein Gegner in einer Entfernung von 200 Meter nicht mehr sicher bekämpft werden kann."

  • April 2012
    Bundesinnenminister Thomas de Maizière will den Durchblick behalten | Bild: dpa-Bildfunk

    Thomas de Maizière, Bundesverteidigungsminister von März 2011 bis Dezember 2013

    April 2012

    Plötzliche Kehrtwende

    Einen Monat später fragt eine Mitarbeiterin de Maizières einen weiteren Bericht an, sowohl bei der Bundeswehrbeschaffungsbehörde wie auch bei den zuständigen Abteilungen im Verteidigungsministerium. Daraufhin antwortet eine andere Abteilung (Fü SK III 1) und kommt zu einem gegensätzlichen Ergebnis: "Das Sturmgewehr G36 wird als grundsätzlich tauglich für die Erfordernisse der laufenden Einsätze bewertet. (…) Konkrete Meldungen der Truppe über die Treffleistung liegen weder aus dem Einsatz noch aus dem Ausbildungsbetrieb heraus."

  • November 2013
    Heckler & Koch in Oberndorf | Bild: picture-alliance/dpa

    Sitz des G36-Herstellers Heckler & Koch im baden-württembergischen Oberndorf

    November 2013

    Hersteller will Berichterstattung verhindern

    Am 20. November 2013 wendet sich Heckler & Koch an den Präsidenten des Militärischen Abschirmdienstes (MAD). Grund: vermehrte Medienberichte über die mangelnde Qualität des G36, die sich auf "Vertraulich" eingestufte Dokumente des Verteidigungsministeriums bezogen. Heckler & Koch will ermitteln lassen, wer die Quelle im Ministerium ist. Die Firma fürchtet um den Ruf des Rüstungsunternehmens. MAD-Präsident Ulrich Birkenheier lehnt ein Eingreifen kategorisch ab.

  • November 2013
    G 36 (Staatsanwaltschaft Schriftverkehr Ausschnitt) | Bild: BR

    Schreiben des Verteidigungsministeriums, das BR und SWR vorliegt

    November 2013

    Heckler & Koch stellt Strafanzeige

    Wer ist der Whistleblower im Verteidigungsministerium? Am 28. November 2013 stellt Heckler & Koch bei der Staatsanwaltschaft Bonn Anzeige gegen Unbekannt. Die Staatsanwaltschaft erbittet vom Ministerium "eine Erteilung der Ermächtigung zur Strafverfolgung" - mit Erfolg. Das geht aus "VS-Geheim" eingestuften Unterlagen hervor, die BR und SWR vorliegen. Das Ministerium befürchtet, eine Ablehnung könnte "bei der Firma Heckler & Koch zu Irritationen führen, die als Vertragspartnerin der Bundeswehr durch die Veröffentlichung der Vorlage ebenfalls geschädigt wurde."

  • Januar 2015
    Sturmgewehre G36 von Heckler und Koch sind am 07.05.2015 in Oberndorf (Baden-Württemberg) in der Firmenzentrale zur Werksinstandsetzung aufgereiht. | Bild: picture-alliance/dpa

    G36 im Heckler & Koch-Firmensitz in Oberndorf

    Januar 2015

    Ministerium für Ermittlungen gegen Whistleblower

    Am 26. Januar 2015 stimmen zwei Staatssekretäre des Verteidigungsministeriums der Ermächtigung zur Strafverfolgung zu. Das Ministerium unterstützt somit aktiv Ermittlungen gegen einen Whistleblower, der vor möglichen Gefahren mangelhafter Waffen der Firma Heckler & Koch gewarnt hat.

  • März 2015
    Soldaten der Bundeswehr trainieren mit dem vollautomatischen Infanteriegewehr G36 | Bild: picture-alliance/dpa

    März 2015

    Untersuchungen bestätigen Mängel

    Nach monatelangen Untersuchungen durch unabhänigige Experten steht nun fest: Das G36 ist nicht so treffsicher wie es sein sollte. Im Klartext: Die Treffer streuen, wenn der Lauf der Waffe heiß wird - entweder durch hohe Außentemperaturen oder wenn der Schütze viele Schüsse unmittelbar hintereinander abgibt. Das betrifft alle Waffengattungen, denn das G36 ist die Standardwaffe der Bundeswehr.

  • April 2015
    Verteidigungsministerin von der Leyen verlässt die Sitzung des Verteidigungsausschusses über das Gewehr G36 | Bild: dpa-Bildfunk

    Ursula von der Leyen, Bundesverteidigungsministerin seit Dezember 2013

    April 2015

    Von der Leyen verkündet Aus für G36

    Die neue Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen zieht plötzlich die Reißleine: Das G36 werde ausgemustert, kündigt die CDU-Politikerin im Verteidigungsausschuss an. Sowohl von der Leyen als auch ihr Amtsvorgänger de Maizière stehen gehörig unter Druck. Beiden wird vorgeworfen, sie hätten auf Berichte über Mängel des Gewehrs nur unzureichend reagiert. Von der Leyen gibt bekannt, dass das G36, von dem 170.000 Exemplare bei der Bundeswehr im Einsatz sind, schrittweise ersetzt werde. Welche Waffe nach dem G36 kommen soll, ist noch unklar.

  • Juni 2015
    Jürgen Grässlin mit seinem Anwalt Holger Rothbauer | Bild: picture-alliance/dpa

    Jürgen Grässlin (links) und Holger Rothbauer

    Juni 2015

    Strafanzeige von Rüstungsgegner

    Anfang Juni 2015 stellen der Anwalt Holger Rothbauer und der Rüstungsgegner Jürgen Grässlin zwei Strafanzeigen gegen Heckler & Koch: eine bei der Staatsanwaltschaft in Rottweil auf Betrug in besonders schwerem Fall, eine zweite bei der Staatsanwaltschaft in Bonn wegen des Verdachts der besonders schweren Untreue. Denn hier sei mit öffentlichen Geldern Schaden angerichtet worden.

  • Juni 2015
    Thomas de Maizière und Ursula von der Leyen | Bild: picture-alliance/dpa

    Thomas de Maizière und Ursula von der Leyen nach ihrem Auftritt im Verteidigungsausschuss

    Juni 2015

    Von der Leyen schützt de Maizière

    Verteidigungsministerin von der Leyen nimmt ihren Amtsvorgänger de Maizière in der G36-Affäre in Schutz: "Wir haben beide die selbe Sicht auf die Dinge", sagt sie nach einem gemeinsamen Auftritt im Verteidigungsausschuss des Bundestags. Zuvor hatte de Maizière in dem Gremium Versäumnisse bestritten. Die ihm in seiner Amtszeit vorliegenden und von ihm angeforderten Untersuchungen und Berichte hätten stets ergeben, dass das G36 "ein richtiges und geeignetes Gewehr ist".

  • Juni 2015
    Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung in Koblenz | Bild: picture-alliance/dpa

    Juni 2015

    Bundeswehr fordert Schadenersatz

    Die Bundeswehr fordert Schadensersatz von Heckler & Koch. Am 10. Juni 2015 legt das Beschaffungsamt der Bundeswehr eine Mängelrüge gegen die Firma ein. Das Ministerium verlangt, dass entweder die Fehler beseitigt werden - das Gewehr also mängelfrei gemacht - oder Schadenersatz gezahlt wird. Heckler & Koch widerspricht der Mängelrüge.

  • Juni 2015
    Verteidigungsministerium | Bild: picture-alliance/dpa

    Juni 2015

    Ministerium schaltet Staatsanwaltschaft ein

    Ende Juni 2015 schaltet das Verteidigungsministerium die Staatsanwaltschaft gegen Heckler & Koch ein. Zuständig ist erneut die Behörde in Rottweil. Nach Informationen von BR und SWR soll sie prüfen, ob die Firma betrog und Schadensersatz leisten muss. "Wir stehen im Kontakt mit dem Verteidigungsministerium", bestätigt Frank Grundke, Sprecher der Staatsanwaltschaft. "Wir haben den Vorgang aus 2011 beigezogen und prüfen, ob Ermittlungen wieder aufgenommen werden.“ Es wäre das erste Mal, dass das Ministerium gegen die Firma vorgeht. Bisher herrschte zwischen beiden eine gewisse Verbundenheit.

  • Juli 2015
    Firmensitz von Heckler & Koch | Bild: picture-alliance/dpa

    Juli 2015

    Waffenhersteller zieht vor Gericht

    Die Firma Heckler & Koch teilt mit, dass sie etwaige Mängel an der Waffe nun juristisch klären lassen will. Dagegen habe man nun beim Landgericht Koblenz eine sogenannte negative Feststellungsklage eingereicht. Ziel sei es, "gerichtlich verbindlich feststellen zu lassen, dass die behaupteten Sachmängel nicht bestehen."

  • Juli 2015
    Sturmgewehr G36 | Bild: picture-alliance/dpa

    Juli 2015

    Bundeswehr bestellte Hitzebeständigkeit

    Heckler & Koch behauptete stets, in Sachen G36 korrekt geliefert zu haben. Neue Dokumente belegen allerdings das Gegenteil: Schon von Anfang an hatte die Bundeswehr das Sturmgewehr so bestellt, dass es bei Temperaturen zwischen -40 Grad Celsius und mehr als +60 Grad Celsius funktionieren sollte. Das geht aus den Technischen Lieferbedingungen von 1996 hervor, die dem SWR vorliegen. Das Wehrwissenschaftliche Institut für Werks- und Betriebsstoffe in Erding stellte jedoch fest, dass bereits knapp über Raumtemperatur die Steifigkeit des am G36 verwendeten Kunststoffes deutlich abnehme.

  • August 2015
    Maschinengewehr MG4 von Heckler & Koch | Bild: pa/dpa/Maurizio Gambarini

    Maschinengewehr MG4

    August 2015

    Provisorischer Ersatz

    Trotz des Gerichtsstreits zwischen Bundeswehr und Heckler & Koch entscheidet sich das Verteidigungsministerium, 600 Sturmgewehre G27P des schwäbischen Herstellers anschaffen zu lassen - als provisorischen Ersatz für das ausgemusterte G36. Zudem kauft die Bundeswehr 600 leichte Maschinengewehre MG4. Es seien keine anderen passenden Gewehre am Markt verfügbar gewesen, heißt es vom Ministerium. Die Opposition reagiert empört. So sagt die Grünen-Politikerin Agnieszka Brugger: "Die Kumpanei zwischen Verteidigungsministerium und Heckler & Koch scheint genauso weiterzugehen wie bisher."

  • September 2015
    G36-Sturmgewehre und Bundeswehr-Helme | Bild: picture-alliance/dpa

    September 2015

    Verteidigungsministerium mustert G36 aus

    "Wir haben uns für einen klaren Schnitt entschieden", sagt Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen. Ab 2019 verschwindet das Sturmgewehr G36 damit aus der Bundeswehr. Nach und nach werden dann alle rund 170.000 Exemplare durch neue Gewehre ersetzt. Was künftig die Standardwaffe sein wird, ist noch unklar. Der Auftrag wird wohl europaweit ausgeschrieben. Die Anforderungen sind laut Verteidigungsministerium jedenfalls deutlich höher als an das G36.


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