Chronik des G36-Skandals Pannengewehr wird zur Politaffäre
Zunächst steht das G36 Bundeswehr-intern in der Kritik. Es folgen Strafanzeigen und dubiose Prüfberichte. Am Ende stehen zwei Minister gehörig unter Druck - auch durch Recherchen von BR und SWR.
-
September 2009
Bundeswehrsoldat mit G36 nahe Kundus in Afghanistan
September 2009
Mängel schon seit Jahren bekannt
Bundeswehr-intern sind die Mängel am G36 offenbar schon lange bekannt. So stellt der Teamführer des 3. Kampfschwimmereinsatzteams im September 2009 in einer dienstlichen Meldung fest: "Diese Sicherheitsmängel der Waffe G36 sind erstmals während der Vorbereitung auf den Afghanistaneinsatz im September 2008 beobachtet worden und traten abermals im Einsatz auf (…) Folglich lehne ich eine zukünftige Verwendung der Waffen und die damit verbundene Verantwortung kategorisch ab." Trotzdem läuft die Kooperation der Bundeswehr mit Heckler & Koch weiter.
-
Januar 2011
G36
Januar 2011
Anonyme Strafanzeige
Am 21. Januar 2011 liegt dem Referat "Ermittlung in Sonderfällen" des Verteidigungsministeriums eine anonyme Anzeige vor, die Mängel der G36-Gewehre darlegt. Das haben Recherchen von BR und SWR aufgedeckt. Die Staatsanwaltschaft Rottweil nimmt nach dem anonymen Hinweis Ermittlungen wegen Betrugs auf, stellt aber das Verfahren am 1. August 2011 ein, da der Vorwurf nach über zehn Jahren verjährt gewesen sei. Das Verteidigungsministerium hatte der Staatsanwaltschaft jedoch möglicherweise nicht sämtliche Verträge zur Verfügung gestellt.
-
November 2011
November 2011
Razzia in Oberndorf
Am 10. November 2011 rücken 300 Polizeibeamte auf dem Firmengelände von Heckler & Koch in Oberndorf an. Der Grund sind Ermittlungen wegen angeblicher Bestechung, mit der sich die Firma die Ausfuhrgenehmigung von G36-Gewehren für Mexiko erkauft haben soll. Heckler & Koch weist die Vorwürfe zurück. Bereits im Dezember 2010 gab es eine Razzia wegen des Verdachts auf Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz - ebenfalls im Zusammenhang mit G36-Gewehren, die in Mexiko aufgetaucht waren.
-
März 2012
Kernaussage der Ministervorlage vom 20. März 2012 zum G36, die BR und SWR vorliegt
März 2012
Verteidigungsminister wohl schon lange informiert
Über die Mängel muss Ex-Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) im März 2012 informiert gewesen sein. Das belegen als geheime Verschlusssache eingestufte Dokumente, die BR und SWR vorliegen. Demnach hat die für die Prüfung des G36 zuständige Abteilung im Verteidigungsministerium, Rü V 4, in einem internen Schreiben für de Maizière festgehalten: "Alle bisher untersuchten G36 zeigen eine Veränderung des mittleren Treffpunkts und eine Aufweitung des Streukreises derart, dass ein Gegner in einer Entfernung von 200 Meter nicht mehr sicher bekämpft werden kann."
-
April 2012
Thomas de Maizière, Bundesverteidigungsminister von März 2011 bis Dezember 2013
April 2012
Plötzliche Kehrtwende
Einen Monat später fragt eine Mitarbeiterin de Maizières einen weiteren Bericht an, sowohl bei der Bundeswehrbeschaffungsbehörde wie auch bei den zuständigen Abteilungen im Verteidigungsministerium. Daraufhin antwortet eine andere Abteilung (Fü SK III 1) und kommt zu einem gegensätzlichen Ergebnis: "Das Sturmgewehr G36 wird als grundsätzlich tauglich für die Erfordernisse der laufenden Einsätze bewertet. (…) Konkrete Meldungen der Truppe über die Treffleistung liegen weder aus dem Einsatz noch aus dem Ausbildungsbetrieb heraus."
-
November 2013
Sitz des G36-Herstellers Heckler & Koch im baden-württembergischen Oberndorf
November 2013
Hersteller will Berichterstattung verhindern
Am 20. November 2013 wendet sich Heckler & Koch an den Präsidenten des Militärischen Abschirmdienstes (MAD). Grund: vermehrte Medienberichte über die mangelnde Qualität des G36, die sich auf "Vertraulich" eingestufte Dokumente des Verteidigungsministeriums bezogen. Heckler & Koch will ermitteln lassen, wer die Quelle im Ministerium ist. Die Firma fürchtet um den Ruf des Rüstungsunternehmens. MAD-Präsident Ulrich Birkenheier lehnt ein Eingreifen kategorisch ab.
-
November 2013
Schreiben des Verteidigungsministeriums, das BR und SWR vorliegt
November 2013
Heckler & Koch stellt Strafanzeige
Wer ist der Whistleblower im Verteidigungsministerium? Am 28. November 2013 stellt Heckler & Koch bei der Staatsanwaltschaft Bonn Anzeige gegen Unbekannt. Die Staatsanwaltschaft erbittet vom Ministerium "eine Erteilung der Ermächtigung zur Strafverfolgung" - mit Erfolg. Das geht aus "VS-Geheim" eingestuften Unterlagen hervor, die BR und SWR vorliegen. Das Ministerium befürchtet, eine Ablehnung könnte "bei der Firma Heckler & Koch zu Irritationen führen, die als Vertragspartnerin der Bundeswehr durch die Veröffentlichung der Vorlage ebenfalls geschädigt wurde."
-
Januar 2015
G36 im Heckler & Koch-Firmensitz in Oberndorf
Januar 2015
Ministerium für Ermittlungen gegen Whistleblower
Am 26. Januar 2015 stimmen zwei Staatssekretäre des Verteidigungsministeriums der Ermächtigung zur Strafverfolgung zu. Das Ministerium unterstützt somit aktiv Ermittlungen gegen einen Whistleblower, der vor möglichen Gefahren mangelhafter Waffen der Firma Heckler & Koch gewarnt hat.
-
März 2015
März 2015
Untersuchungen bestätigen Mängel
Nach monatelangen Untersuchungen durch unabhänigige Experten steht nun fest: Das G36 ist nicht so treffsicher wie es sein sollte. Im Klartext: Die Treffer streuen, wenn der Lauf der Waffe heiß wird - entweder durch hohe Außentemperaturen oder wenn der Schütze viele Schüsse unmittelbar hintereinander abgibt. Das betrifft alle Waffengattungen, denn das G36 ist die Standardwaffe der Bundeswehr.
-
April 2015
Ursula von der Leyen, Bundesverteidigungsministerin seit Dezember 2013
April 2015
Von der Leyen verkündet Aus für G36
Die neue Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen zieht plötzlich die Reißleine: Das G36 werde ausgemustert, kündigt die CDU-Politikerin im Verteidigungsausschuss an. Sowohl von der Leyen als auch ihr Amtsvorgänger de Maizière stehen gehörig unter Druck. Beiden wird vorgeworfen, sie hätten auf Berichte über Mängel des Gewehrs nur unzureichend reagiert. Von der Leyen gibt bekannt, dass das G36, von dem 170.000 Exemplare bei der Bundeswehr im Einsatz sind, schrittweise ersetzt werde. Welche Waffe nach dem G36 kommen soll, ist noch unklar.
-
Juni 2015
Jürgen Grässlin (links) und Holger Rothbauer
Juni 2015
Strafanzeige von Rüstungsgegner
Anfang Juni 2015 stellen der Anwalt Holger Rothbauer und der Rüstungsgegner Jürgen Grässlin zwei Strafanzeigen gegen Heckler & Koch: eine bei der Staatsanwaltschaft in Rottweil auf Betrug in besonders schwerem Fall, eine zweite bei der Staatsanwaltschaft in Bonn wegen des Verdachts der besonders schweren Untreue. Denn hier sei mit öffentlichen Geldern Schaden angerichtet worden.
-
Juni 2015
Thomas de Maizière und Ursula von der Leyen nach ihrem Auftritt im Verteidigungsausschuss
Juni 2015
Von der Leyen schützt de Maizière
Verteidigungsministerin von der Leyen nimmt ihren Amtsvorgänger de Maizière in der G36-Affäre in Schutz: "Wir haben beide die selbe Sicht auf die Dinge", sagt sie nach einem gemeinsamen Auftritt im Verteidigungsausschuss des Bundestags. Zuvor hatte de Maizière in dem Gremium Versäumnisse bestritten. Die ihm in seiner Amtszeit vorliegenden und von ihm angeforderten Untersuchungen und Berichte hätten stets ergeben, dass das G36 "ein richtiges und geeignetes Gewehr ist".
-
Juni 2015
Juni 2015
Bundeswehr fordert Schadenersatz
Die Bundeswehr fordert Schadensersatz von Heckler & Koch. Am 10. Juni 2015 legt das Beschaffungsamt der Bundeswehr eine Mängelrüge gegen die Firma ein. Das Ministerium verlangt, dass entweder die Fehler beseitigt werden - das Gewehr also mängelfrei gemacht - oder Schadenersatz gezahlt wird. Heckler & Koch widerspricht der Mängelrüge.
-
Juni 2015
Juni 2015
Ministerium schaltet Staatsanwaltschaft ein
Ende Juni 2015 schaltet das Verteidigungsministerium die Staatsanwaltschaft gegen Heckler & Koch ein. Zuständig ist erneut die Behörde in Rottweil. Nach Informationen von BR und SWR soll sie prüfen, ob die Firma betrog und Schadensersatz leisten muss. "Wir stehen im Kontakt mit dem Verteidigungsministerium", bestätigt Frank Grundke, Sprecher der Staatsanwaltschaft. "Wir haben den Vorgang aus 2011 beigezogen und prüfen, ob Ermittlungen wieder aufgenommen werden.“ Es wäre das erste Mal, dass das Ministerium gegen die Firma vorgeht. Bisher herrschte zwischen beiden eine gewisse Verbundenheit.
-
Juli 2015
Juli 2015
Waffenhersteller zieht vor Gericht
Die Firma Heckler & Koch teilt mit, dass sie etwaige Mängel an der Waffe nun juristisch klären lassen will. Dagegen habe man nun beim Landgericht Koblenz eine sogenannte negative Feststellungsklage eingereicht. Ziel sei es, "gerichtlich verbindlich feststellen zu lassen, dass die behaupteten Sachmängel nicht bestehen."
-
Juli 2015
Juli 2015
Bundeswehr bestellte Hitzebeständigkeit
Heckler & Koch behauptete stets, in Sachen G36 korrekt geliefert zu haben. Neue Dokumente belegen allerdings das Gegenteil: Schon von Anfang an hatte die Bundeswehr das Sturmgewehr so bestellt, dass es bei Temperaturen zwischen -40 Grad Celsius und mehr als +60 Grad Celsius funktionieren sollte. Das geht aus den Technischen Lieferbedingungen von 1996 hervor, die dem SWR vorliegen. Das Wehrwissenschaftliche Institut für Werks- und Betriebsstoffe in Erding stellte jedoch fest, dass bereits knapp über Raumtemperatur die Steifigkeit des am G36 verwendeten Kunststoffes deutlich abnehme.
-
August 2015
Maschinengewehr MG4
August 2015
Provisorischer Ersatz
Trotz des Gerichtsstreits zwischen Bundeswehr und Heckler & Koch entscheidet sich das Verteidigungsministerium, 600 Sturmgewehre G27P des schwäbischen Herstellers anschaffen zu lassen - als provisorischen Ersatz für das ausgemusterte G36. Zudem kauft die Bundeswehr 600 leichte Maschinengewehre MG4. Es seien keine anderen passenden Gewehre am Markt verfügbar gewesen, heißt es vom Ministerium. Die Opposition reagiert empört. So sagt die Grünen-Politikerin Agnieszka Brugger: "Die Kumpanei zwischen Verteidigungsministerium und Heckler & Koch scheint genauso weiterzugehen wie bisher."
-
September 2015
September 2015
Verteidigungsministerium mustert G36 aus
"Wir haben uns für einen klaren Schnitt entschieden", sagt Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen. Ab 2019 verschwindet das Sturmgewehr G36 damit aus der Bundeswehr. Nach und nach werden dann alle rund 170.000 Exemplare durch neue Gewehre ersetzt. Was künftig die Standardwaffe sein wird, ist noch unklar. Der Auftrag wird wohl europaweit ausgeschrieben. Die Anforderungen sind laut Verteidigungsministerium jedenfalls deutlich höher als an das G36.