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Das 20. Jahrhundert Im Taumel von Teufelsrad und Politik

Die Wiesn im 20. Jahrhundert: Weltkriege, Hungerzeiten, Wirtschaftswunder. Ein Tummelplatz fürs Volk und den Geist: Thomas Wolfe schreibt, Einstein schraubt, Brecht flötet. Nur Hitler kommt erst später. Nach 1945 wird die Wiesn endgültig zum Weltereignis.

Von: Michael Kubitza

Stand: 11.08.2008 | Archiv

Das Teufelsrad auf einer Postkarte von 1911 | Bild: Münchner Stadtmuseum

Ein Jahrhundert ist eine lange Zeit, selbst auf der Wiesn, wo der Rausch seine eigenen Zeitbegriffe schafft. Wer nach 1900 die Wiesn besuchte, etwa das - vorläufig - "größte Oktoberfest aller Zeiten" im Jubiläumsjahr 1910, der dürfte nicht leicht nachempfunden haben, was der Biedermeierdichter August Lewald über die Wiesn geschrieben hat.

"Der Mond scheint vom wolkenlosen Himmel herab, die Gebirgskette vom Dufte umzogen, die Wälder, die nächtlich daliegen, die tausend Lichter, die in der Stadt angezündet werden und hie und da auch in fernliegenden Dörfern auftauchen."

August Lewald, Panorama von München, 1835

Im neuen Jahrhundert sind die Wälder verschwunden, die Dörfer zur Großstadt zusammengewachsen. Aus den tausend Lichtern sind zehntausende geworden, die rundherum elektrisch aufflammen. Der Wiesnbesucher bekommt sie höchstens zu Gesicht, wenn er eine Runde auf dem "Russenrad" dreht - donst löscht die Festbeleuchtung der immer stärker konkurrierenden Bierhallen und Karussells die Umgebung aus.

Wo es nicht scheppert, dröhnt oder tirriliert es, und was duftet, entströmt selten dem Gebirg', sondern, im günstigen Fall, den Steckerlfischen und gebrannten Mandeln, im anderen den Generatoren und den Konsumenten von 12.000 Hektolitern Bier.

Die erste Wiesn des neuen Jahrhunderts in Zahlen

Für das Oktoberfest 1900 hat der Magistrat lizensiert: 27 Bierwirtschaften, vier Weinwirtschaften, 26 Käsestände, 23 Wurstküchen, eine Ochsenbraterei, acht Fischbratereien, 15 Küchelbäckereien, sechs Hühnerbratereien, fünf Schiffschaukeln, neun Karusselle, 50 Schaubuden, 15 Schießbuden, zwölf Fotografiebuden, 53 Dultstände, 569 fliegende Händler.

Den Zeitgenossen erscheint das Oktoberfest jener Jahre mit Toboggan und Teufelsrad, Spiegellabyrinth und "Cocos Nüssen" ungemein modern. Die Nachgeborenen erblicken darin die "gute, alte Zeit". Der Weltkrieg, der doch bis Weihnachten zu Ende sein sollte, und die Revolution von 1918/19 setzen dem Königreich Bayern ein ruhmloses Ende.

Die rauschgoldenen 20er

Die Wiesn muss ohne den milden Schein der Monarchie und ohne Pferderennen auskommen, mit Inflation und politischen Spannungen. Aber auch mit illustren Besuchern, deren Festerlebnisse wir heute nachlesen können: Egon Erwin Kisch ist da, Oskar Maria Graf findet die Wiesn eh "wunderbar", Bert Brecht tritt mit Karl Valentin auf, der, wenn er nicht selbst auftritt, lustvoll-mürrisch seinen Steckerlfisch abfieselt. Liesl Karlstadt konferiert:

Aufnahme von 1928: Liesl Karlstadt als Ausruferin beim Oktoberfest

Der Amerikaner Thomas Wolfe gerät 1928 in eine wüste Schlägerei. Später notiert er:

"Sie essen, trinken und atmen sich in einen Zustand tierischen Stumpfsinns hinein."

Thomas Wolfe, 1928

"Keiner denkt in diesen Tagen ernstlich ans Arbeiten, der 'Wiesnmagen' heißt eine populäre Krankheit, und viele kommen vor Bier ohnedies nicht zurecht."

Erika Mann in einem Brief, 1929

Die Wiesn ist gleichzeitig Wirtschafts- und Wirtschaftsvermeidungsfaktor. Albert Einstein gehört zu denen, die hier arbeiten, freilich schon vor dem Krieg: da schraubt er als Lehrbub Glühbirnen in die Fassade des Schottenhamel-Zelts.

Nur der Anti-Alkoholiker Hitler lässt sich lange nicht blicken. Für den "Führer" in spe ist die Wiesn wie Weihnachten: ein Spektakel, das schon deshalb verdächtig ist, weil er es sich nicht selbst ausgedacht hat, das aber bestmöglich propagandistisch genutzt sein will. 

1933 ff.: Wiesn unterm Hakenkreuz

Oktoberfest in alten Aufnahmen | Bild: SZ Photo

Ein Propagandaballon des "Völkischen Beobachters"

1933 reduzieren die Nazis den Bierpreis auf 90 Pfennig. 1935 marschieren im großen Jubiläumszug die NS-Organisationen mit. Ab 1936 ist einheitliche Hakenkreuz-Beflaggung Pflicht - Fahnen in den Landes- und Stadtfarben werden untersagt.

Aufmarsch der Parteiprominenz

Dass jüdische Schausteller von der Wiesn verbannt sind, fällt nur wenigen auf; eher schon die Penetranz, mit der sich die Parteibonzen um den NS-Ratsherrn Christian Weber in den Boxen breitmachen. 1938 wird das Oktoberfest in "Großdeutsches Volksfest" umgetauft - es ist das letzte vor dem Krieg.

1949 ff.: Weltstadt mit Wiesnherz

München liegt noch in Trümmern, da wird auf der Wiesn schon wieder gefeiert - anfangs auf dem "kleinen Herbstfest" mit Dünnbier und Fischsemmel auf Marken. Doch der Durst ist groß in München, und im Rest der Welt wird er immer größer. Münchner Bier ist noch immer ein Begriff, auch wenn die Außenwahrnehmung der Stadt zwischen "Hauptstadt der Gemütlichkeit" und "Hauptstadt der Bewegung" oszilliert. Gut, dass es die "Hauptstadt der Zelte" gibt: Nürnberg hat die Nürnberger Prozesse, München sein Oktoberfest, das viel dazu beiträgt, ein entpolitisiertes Münchenbild ihn die Welt zu projizieren.

Es herrscht wieder Frieden in München - höchstens dann und wann ein juristischer Kleinkrieg, etwa um die Frage, ob der mechanische Viereinhalbmeterlöwe vorm Löwenbräuzelt brüllen darf (er durfte). Den Zeitgenossen ist der populäre OB Thomas Wimmer in Erinnerung durch sein "Rama dama!", mit dem er zum Schutträumen und Wiederaufbauen aufrief; unsterblich wird er als Erfinder der bis heute unvermeidlichen Anzapf-Zeremonie.

Wiesn-Anstich 1960: Thomas Wimmer auf dem Oktoberfest

In den 60ern geht es wieder steil aufwärts mit dem Oktoberfest. Buden, Bierzelte, Fahrgeschäfte - je mehr und je spektakulärer, desto besser. Die "heimliche Hauptstadt" München macht mit Sympathie und Alpenpanorama wett, was ihr an politischer und wirtschaftlicher Bedeutung fehlt. Nach Olympia '72 (mit neuem Looping) wird die Wiesn zum Tummelplatz auch für Amerikaner (spendabel), Italiener (sangesfreudig) und Australier (trinkfest). 

Das Attentat

Am 26. September 1980 der Schock: Bei einem Bombenanschlag auf der Wiesn werden 13 Menschen getötet - unter ihnen der Täter -, 211 zum Teil schwer verletzt. Die Ermittlungen verlaufen konfus, Spuren, die ins rechtsextremistische Milieu führen, werden nicht weiter verfolgt. Im Bundestagswahlkampf wird der Anschlag zum Politikum.

An der Version der Behörden, die im Bombenleger Gundolf Köhler einen Einzeltäter sehen, gibt es erhebliche Zweifel. Recherchen unter anderem des BR-Journalisten Ulrich Chaussy und neue Zeugenaussagen bewirken 2014 eine Neuauflage der Ermittlungen.

Riesenwiesn wordwide

Dem Welterfolg der Wiesn tut das nur kurzzeitig Abbruch. Gefeiert wird längst nicht mehr nur in München - auch in San Francisco und Moskau, in Windhoek (Namibia), Quingdao (China), Brisbane (Australien) und Blumenau (Brasilien) gibt es Oktoberfeste. Was als Pferderennen der Wittelbacher begann und als bayerischer Nationalrausch globales Ausehen erregte, ist zum internationalen "Trade Mark" geworden.

Auf der "Oiden Wiesn": Sogar ein Pferderennen gibt es.

Dahoam zieht die Wiesn regelmäßig über fünf Millionen Besucher an - weshalb so mancher Münchner inzwischen lieber daheim bleibt. Für alle, denen die Gemengelage im Mengengelage zu unübersichtlich geworden ist, findet seit 2010 (unregelmäßig) die "Oide Wiesn" statt, auf der es ausschaut und zugeht wie vor 50, 100 oder 200 Jahren.

Ein Kreis schließt sich.

Galerie: Wiesn-Impressionen seit 1949


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