NSU-Prozess: Gerichtssaal-Protokoll 2. Verhandlungstag, 14.5.2013
Am Vormittag des zweiten Verhandlungstages werden über Stunden hinweg zahlreiche Anträge der Verteidiger und Nebenkläger verlesen und heftig diskutiert. Erst am späten Nachmittag wird der Anklagesatz verlesen.
Zu Beginn des Verhandlungstages wird unter anderem das Presse-Akkreditierungsverfahren kritisiert, ebenso die Größe des Gerichtssaals, der zu klein für die Verhandlung sei. Alle Anträge werden jedoch zurückgewiesen. Erst am späten Nachmittag kommt das Gericht zur Hauptsache: der Verlesung des Anklagesatzes. Für Aufsehen sorgt die Bemerkung von Richter Götzl, die Causa Keupstraße (Köln) unter Umständen von der Verhandlung abzutrennen, sollte die Zahl der Nebenkläger in diesem Fall zunehmen. Erneut ist Maik E., Zwillingsbruder des Mitangeklagten André E., anwesend sowie der bekannte Neonazi Daniel Thönnessen.
ARD-Reporter über das Geschehen im Gerichtssaal
(Hans Pfeifer, DW)
Unter den ersten 20 (drin) wartet Maik E. Er wird begleitet von einem jungen Mann, Typ Autonomer Nationalist, Lippen-Piercing, Jeans und Sportschuhe. E. hat also wechselnde Begleitung.
(Christoph Arnowski, BR)
Alles heute sehr ruhig, Kontrolle war weniger streng, als ich mir das vorgestellt habe. Hat alles in allem maximal zwei Minuten gedauert, wie am Flughafen plus zusätzliche Abtastung in kleinem Verschlag, aber nicht sehr streng. Musste allerdings meinen Schlüsselbund abgeben, könnte man schließlich als Wurfgeschoss verwenden. Maik E. sitzt mittlerweile auf der Zuschauertribüne. Im Saal derzeit nur Polizei und Poolteams/Fotografen.
(Christoph Arnowski, BR)
Die drei Zschäpe-Verteidiger sind gerade gekommen, bauen ihre Laptops auf. Das Kreuz hängt über der Tür, über die normalerweise Staatsanwälte und andere Prozessbeteiligte hereinkommen (also von Beuchertribüne aus gesehen rechts). Jetzt sind auch die Bundesanwälte da.
(Thies Marsen, BR)
Bei einem der im Gerichtssaal anwesenden Neonazis handelt es sich um den ehemaligen Aktivisten der verbotenen "Kameradschaft Aachener Land" (KAL), Daniel Thönnessen.
(Christoph Arnowski, BR)
ZDF-Kollegen haben Thönnessen gedreht, er sitzt vom Saal aus gesehen ganz rechts in der zweiten Reihe, an seinen schwarzen Knöpfen in den Ohren eigentlich leicht zu erkennen.
(Christoph Arnowski, BR)
9.15 Uhr.
Besucher- und Pressetribüne praktisch voll, anders sieht es auf den Plätzen der Nebenkläger aus. Ich kann zwar nicht richtig einsehen, aber die meisten Stühle die ich sehen kann, sind leer.
(Christoph Arnowski, BR)
André E. mit schwarzem "AC/DC"-Shirt, wie sein Zwillingsbruder, mit dem er auch lächelnd und stolz auf Shirt Blick austauscht. Die Mitangeklagten Holger G. und Carsten S. sind ebenfalls da, G. verdeckt, Kopf mit grauer Kappe und Aktendeckel, ist vorneübergebeugt, S. hat blauen Kapuzenpulli über den Kopf gezogen, blickt am Tisch sitzend nach unten, Hände gefaltet. E. spricht mit seinem Verteidiger, hat dunkle Sonnenbrille auf.
9.28 Uhr.
Es fehlen noch Wohlleben und Zschäpe.
(Hans Pfeifer, DW)
André E. hat keine Unterlagen dabei. Nur seine Sonnenbrille und eine Packung Halsbonbons. Er tritt wieder selbstbewusst auf: lehnt sich auf der Anklagebank zurück und schaut zu seinen Bruder Maik hoch auf die Besuchertribüne. Sie lachen sich kurz an. Wirken, als sei das alles ein riesiger Spaß. Es ist natürlich auch Kaffeesatzleserei, aber irgendwie wirkt Zwillingsbruder Maik stolz auf seinen angeklagten Bruder.
(Ayca Tolun, WDR)
9.00 Uhr.
Gerichtspräsident Karl Huber an der Zuschauertribünentür, unterhält sich erst mit Polizisten, dann mit Kollegen. Morgens wenig Andrang an Zuschauertribüne, ca. 50 Leute, einige unter ihnen Journalisten, darunter türkische, allerdings kein Vertreter der Klägerzeitung "Sabah" anwesend, auch bisher niemand von "Hürriyet". Dafür heute Vertreter von den Zeitungen "Zaman" und "Evrensel" sowie vom türkischen Staatssender TRT und von der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu (alle über das Zuschauerkontingent). Auch die türkischen TV-Nachrichtensender fehlen inzwischen. Sie werden kaum mehr weiterberichten.
Eine Diskussion wäre möglich im Sinne von: "Erst haben die Türken so einen Wind gemacht und jetzt kommen und berichten sie gar nicht mehr."
Wieder diese etwas merkwürdige Atmosphäre. Wir warten auf Zschäpe. Die Spannung ist sichtbar.
Die Kameraleute und Fotografen haben sich aufgereiht und warten. Allerdings ist der gesamte Saal gesprächiger als am Montag. Die damals seltsam anmutende "Ehrfurcht" ist nicht mehr so "durchdringend".
9.35 Uhr.
Es fehlen nur noch die Richter und Zschäpe, scheinen sich Zeit lassen zu wollen.
(Matthias Reiche, MDR)
Beate Zschäpe und Ralf Wohlleben lassen auf sich warten.
9.46 Uhr.
Beate Zschäpe und Ralf Wohlleben erscheinen jetzt, sie diesmal im hellen Kostüm und wie am ersten Tag mit dem Rücken zu Nebenklägern und Fotografen.
(Christoph Arnowski, BR)
Wohlleben gut gelaunt, steht mit Gesicht in den Saal, unterhält sich mit seinen Verteidigern, schaut sich mit ihnen Zeitungen an, lacht und lächelt viel, Zschäpe spricht mit ihren Verteidigern.
(Ayca Tolun, WDR)
9.50 Uhr.
Zschäpe da. Das Spiel vom Montag: sie mit dem Rücken jetzt in ihrer Sitzreihe zu den Kameraleuten und Fotografen, unterhält sich, face to face, mit ihren Anwälten.
Die merkwürdige, fast ehrfürchtige Stimmung wieder da, allerdings wird heute mehr geredet.
Zschäpe mit Pferdeschwanz, fliederfarbenes Jackett mit weißer Bluse, wieder im Hosenanzug, schick und nach Junganwaltin aussehend.
(Hans Pfeifer, DW)
Der Auftritt der Verteidiger: Es gibt keine Kommunikation zwischen den verschiedenen Teams der Angeklagten, nur innerhalb. Das war auch schon beim ersten Prozesstag so. Es wirkt wie eine Strategie: alles Gerede von einem Neonazi-Netzwerk ist Quatsch.
Im Zschäpe-Team wirkt Verteidigerin Anja Sturm immer etwas abseits, wie Beiwerk. Wolfgang Stahl und Wolfgang Heer beziehen sie auch nicht besonders in ihre Gespräche ein. Auch auf der Anklagebank sitzt Sturm etwas abseits.
(Christoph Arnowski, Holger Schmidt)
Feststellung der Anwesenheit dauerte ca. 10 Minuten.
Heer beantragt Wortmeldung, Nebenkläger beantragt Verlesung des Anklagesatzes, Nebenkläger beantragt Redebeitrag zu abgelehntem Befangenheitsantrag.
Wohlleben-Verteidigerin Nicole Schneiders kündigt Aussetzung und Einstellungsantrag an.
Wohlleben-Verteidiger Olaf Klemke will Besetzungsrüge erheben.
Erster Schlagabtausch zwischen Heer und Richter Manfred Götzl über die Frage, wer wann das Wort hat: Heer will reden, ohne Antrag vorab erläutern zu wollen.
Götzl: Sie müssen aber sagen, was Sie wollen.
Heer: Muss ich nicht.
Götzl: Die Verhandlungsleitung habe ich, ich will zu den Personalien kommen.
Gefecht dauert an. Heer will den Raum ändern: "In diesem Sitzungssaal darf nicht weiterverhandelt werden."
Nebenklage will Feststellung der Personalien und Anklagesatzverlesung jetzt sofort und droht ggf. mit Beanstandung. Heer kontert: "So einen Antrag gibt es nicht."
Heer bekommt das Wort, kommt aber nicht dazu, denn Nebenklage der Angehörigen des ermordetet Halit Yozgat beanstandet dies und versucht, in der Begründung doch den Antrag zu stellen. Winziger Tumult.
(Christoph Arnowski, BR)
10.00 Uhr.
Thomas Bliwier (Nebenklage-Anwalt Yozgat) beantragt Verlesung der Anklageschrift, Heer geht dazwischen; sieht die Strafprozessordnung nicht vor, sagt Heer. Bliwier setzt mit seinem Antrag fort. Begründung: Verteidigung Wohlleben hat sich ausschließlich vorgenommen, die Verlesung der Anklageschrift zu verändern. Anträge können zu späterem Zeitpunkt gestellt werden, Verfahren wird ja so lange dauern. 5 bis 6 Nebenklägeranwälte schließen sich an.
Stahl erinnert: Am letzten Verhandlungstag haben wir präzisiert, dass wir keinen weiteren Ablehnungsantrag stellen werden, aber einen weiteren unaufschiebbaren Antrag zur Öffentlichkeit (Revisionsgrund) stellen werden, daraufhin hatten Sie unterbrochen. Vordringlich zu behandelnder Antrag! Sollte so früh wie möglich behandelt werden. Klemke beantragt Abschrift des Bliwier-Antrags, "damit ich mir den in Ruhe zu Gemüte führen kann und beantrage 15 Minuten Unterbrechung, damit ich Stellung nehmen kann".
10.15 Uhr.
Heer plädiert für vernünftige Rahmenbedinungen, jeder Kollege sollte an vernünftiger Öffentlichkeit interessiert sein. Bundesanwalt Herbert Diemer: Formulierkunst der Verteidigung ist offensichtlich unerschöpflich! Haben wir jetzt Kostproben bekommen. Sollten jetzt wegen Beschleunigungsgebot zur Verlesung der Anklage kommen.
Sitzung für zehn Minuten unterbrochen.
(Hans Pfeifer, DW)
Antragsgewitter im Gerichtssaal. Carsten S. sitzt fast schon apathisch da. Er schaut niemanden an. Starrt vor sich hin. Hat nichts vor sich liegen. Die weiteren Angeklagten verfolgen die Ping-Pong-Duelle zwischen Nebenklage, Verteidigern und Richtern aufmerksam. Holger G. macht sogar ab und zu Notizen. Mit Beginn der Unterbrechung dreht S. sich von allen weg. Redet mit seinem Verteidiger. Auch in der Pause keinerlei erkennbarer Kontakt zwischen den Angeklagten oder zwischen den Verteidigerteams.
(Ayca Tolun, WDR)
Zschäpe verhält sich wie am Montag, locker mit ihren Anwälten plaudernd, ihren coffee to go trinkend.
Die türkischen Kollegen sinnieren über ihre Berichterstattung: Wie soll man diese Antragsjuristerei und das dann auch noch nach deutscher Sachlichkeit und deutscher Logik der türkischen Zielgruppe nahe bringen? Wird man für das Thema überhaupt in der Zeitung einen Platz finden können? Eher nicht, sind sich fast alle sicher. Wie oft muss man anwesend sein, um den Faden nicht zu verlieren? Wer sagt einem eigentlich, dass man alles richtig verstanden hat?
(Holger Schmidt, SWR)
10.36 Uhr.
Heer bekommt das Wort. Klemke dazwischen: Antrag, der kopiert wurde, ist nicht das, was Nebenklage vorgetragen hat. Behauptung, Verteidigung wolle Anklageverlesung verzögern und verhindern, ist Schwachsinn. Klemke: Nebenklage will Stimmung machen. Offensichtlich sind noch nicht genug Scheiben eingeworfen worden. Es ist der Versuch, die Wohlleben-Verteidigung mundtot zu machen.
Unterbrechung bis 10.50 Uhr, weil Nebenklage Worterteilung beanstandet hat. Schneiders sagt: medizinisches Problem bei Wohlleben.
(Christoph Arnowski, BR)
10.39 Uhr.
Sitzung erneut unterbrochen.
(Christoph Arnowski, BR)
Es ist immer noch unterbrochen, eigentlich sollte es ja um 10.50 Uhr weitergehen. Welches gesundheitliche Problem G. haben soll, ist ihm nicht anzusehen. E. liest jetzt schon zum zweiten Mal im Strafgesetzbuch. Wohlleben schreibt handschriftlich in einen Ordner, den er vor sich hat. S. gibt sich weiter apathisch mit dem Rücken zum Publikum. G. mach sich ebenfalls handschriftliche Notizen. Zschäpe spricht mit Heer.
(Ayca Tolun, WDR)
11.00 Uhr.
Zschäpe erstmals ohne Anwälte um sich herum sitzend, schaut immer in Richtung André E., der drei Stühle weiter sitzt. Der wiederum schäkert immer wieder mal mit seinem Zwillingsbruder oben auf der Zuschauertribüne. Im übrigen: Der Zwillingsbruder steht in den Pausen auf, starrt Zschäpe und/oder Bruder über längere Strecken an.
Mehmet Kilic (Grünen-Abgeordneter) ist kurzzeitig im Saal. Er sagt, er ist auch hier, "um sein eigenes Trauma zu bewältigen". Für ihn sind die NSU-Morde eine Art Fortsetzung dessen, was vor 20 Jahren der Brandanschlag von Solingen bei ihm und den türkisch-stämmigen Migranten ausgelöst hat: Dass es in Deutschland sehr wohl einen "mordfähigen Rechtsextremismus" gibt und dass es trotzdem nach wie vor keine adäquate Debatte darüber gibt. Für Kilic könnte der NSU-Prozess genau diese Debatte auslösen.
(Christoph Arnowski, BR)
11.04 Uhr.
Worterteilung von Heer wird bestätigt, Antrag zum jetzigen Zeitpunkt sachgerecht, da andernfalls Teile der Hauptverhandlung wiederholt werden müssten.
Heer: Neu beginnen mit ausreichender Kapazität mit genügend Sitzplätzen für die Öffentlichkeit, wenn nicht: ins Protokoll: nicht mehr als 51 Zuschauer und 50 Presseplätze. Unterbrechung der Verhandlung für zwei Tage, um endlich Unterlagen zum Losverfahren zu bekommen und Überprüfung zu ermöglichen. Hauptverhandlung in Sitzungssaal, beschränkte Kapazität gewährleistet nicht Öffentlichkeitsgrundsatz, auch zweite Akkreditierungsverfahren mangelhaft, Verhandlung muss öffentlich sein, prägende und grundlegende Einrichtung des Rechtsstaates, dient der Information der Allgemeinheit. Verletzung der Öffentlichkeit ist absoluter Revisionsgrund, obliegt nicht der Verhandlungsleitung.
Die Verteidigung verkennt, dass Sicherheitsbedürfnisse berücksichtigt werden müssen, muss wegen Verfahrensbedeutung von dem Grundsatz abgewichen werden, dass Gericht in größeren Saal wechseln muss.
Heer: Verteidigung hat schon frühzeitig im Februar darauf hingewiesen, dass Zeuge nur vom Gericht frontal gesehen werden kann. Ordnungsgemäße Vernehmung von Zeugen wird für Mehrzahl der Verfahrensbeteiligten nicht möglich sein. Huber am 15. März: Gesichter der sprechenden Prozessteilnehmer werden auf Projektion zu sehen sein.
Nonverbale Reaktionen und Gesten des Zeugen bleiben im Verborgenen. Gerade Erröten und Schwitzen sind für Beurteilung einer Zeugenaussage von erheblicher Bedeutung. Öffentlichkeit kann das nicht verfolgen. Nebenklägerbereich für Öffentlichkeit nicht einsehbar. Auch von weiter hinten ist nur ein kleiner Teil des Saales sichtbar. Aus seitlichen Bereichen ganz hinten ist nicht einmal mehr die Richterbank einsehbar.
Huber verfolgt das alles mit nachdenklichem Gesicht stehend auf der Empore.
Heer: Alternativen: World Conference Center in Bonn (früherer Sitz des Bundestages), auch andere Räumlichkeiten wären bei entsprechenden Umbauarbeiten geeignet gewesen. Selbst wenn sich nur ein Teil der potenziellen weiteren Nebenkläger der Nebenklage anschließt, wäre der Saal 101 objektiv zu klein. Ungestörte interne Kommunikation der Verteidigung wäre nicht mehr möglich. Hohe Zahl der Nebenkläger war von Anfang an absehbar. Um Grundsatz der Öffentlichkeit gerecht zu werden, Verhandlung aussetzen und in anderem Saal neu beginnen. Akkreditierungsverfahren muss transparent erfolgen.
30. April: Antrag von Heer, sämtliche Akten zur Verfügung zu stellen.
Mit Schreiben von gleichem Tage, Götzl: Verfahren wurde der Pressestelle übertragen, deshalb dort die Akten.
2. Mai: erneut Schreiben, diesmal an Präsident Huber.
3. Mai: Vizepräsidentin: Nach Überprüfung wolle man entscheiden, ob Akteneinsicht gegeben werde.
10. Mai: Mitteilung: Akteneinsicht in Räumen des Gerichts möglich, konnte aber laut Aussage Heer noch nicht erfolgen.
Verzögerung und gebotene Unterbrechung sind vom Senat und Präsidium des OLG zu verantworten. Überprüfung um so mehr erforderlich, weil erstes Verfahren derart fehlerhaft. Bei rechtzeitiger Entscheidung wäre Überprüfung in der letzten Woche auf den abgesetzten Tagen möglich gewesen.
Ordnungsgemäße Überprüfung hat entgegen Statement von Herrn Notar Meyer nicht stattgefunden.
927 Medien und Medienvertreter hatten Akkreditierung beantragt. Verteidiger brauchen zwei Tage, weil Material zu umfangreich. Richter können streng vertrauliche Unterlagen der Verteidigung einsehen.
10.40 Uhr: Ende Antrag von Heer.
(Matthias Reiche, MDR)
Der Vortrag von Anwalt Heer endet nach 40 Minuten.
Es folgen Anträge, endlich die Anklageschrift zu verlesen und den Antrag von Zschäpe später zu behandeln.
Nebenkläger verweisen darauf, dass es auch um die Interessen der Nebenkläger gehen sollte und man den Anklagesatz verlesen sollte. Weitere Verschiebung würde eine unzulässige Belastung bedeuten.
Von den fast 80 Nebenklägern sind an diesem zweiten Verhandlungstag nur noch etwa 10 persönlich dabei.
11.45 Uhr.
Mittagspause bis 13.30 Uhr.
(Christoph Arnowski, BR)
Bundesanwalt Diemer: Antrag wird abgelehnt werden. Es sollte doch die Anklage verlesen werden.
Sebastian Scharmer (Nebenklage-Anwalt der Angehörigen des ermordeten Mehmet Kubasik): Antrag ist zulässig, aber hat keine Aussicht auf Erfolg.
26 von 70 Nebenkläger konnten nur mehr nach der ersten Terminverlegung am ersten Prozesstag teilnehmen, nunmehr nur noch 7 Nebenkläger.
Nebenklage-Anwalt der Angehörigen des ermordeten Theodoros Boulgarides: Stimme den Verteidigern zu, dass Bänke nicht von Gericht eingesehen werden dürfen, wichtig für faires Verfahren.
Reinhard Schön (Nebenklage-Anwalt der Opfer des Anschlags in der Kölner Keupstraße): Schon heute leere Plätze auf den Zuschauerbänken.
Carsten Illius (Nebenklage-Anwalt Kubasik): Erste Verschiebung war schon Belastung, beantrage unverzügliche Fortsetzung, Beschleunigungsverbot.
Die Sitzung wird unterbrochen, Mittagspause bis 13.30 Uhr.
(Matthias Reiche, MDR)
13.40 Uhr.
Anwalt der Nebenklage lehnt in einer Stellungnahme noch einmal den Antrag der Verteidigung ab, den Saal zu wechseln. Gehört offensichtlich zur Folklore solcher Prozesse, dass jeder Anwalt gern irgendwas sagen möchte. Dabei wartet alles auf die Entscheidung des Gerichts zu dem Aussetzungsantrag. Zuvor hat noch einmal Anwalt Heer das Wort und provoziert einmal mehr den Richter, der jetzt erstmals wirklich dagegenhält. Man bekommt eine Ahnung, dass sein Langmut nicht unendlich sein wird. Es geht jetzt darum, wo jene Verteidiger Platz nehmen können, die Angst haben, man könne ihren Bildschirm einsehen. Eine Möglichkeit wäre, eine Reihe weiter nach hinten zu rücken. Anwalt Heer argwöhnt allerdings, man wolle ihn an den Katzentisch verbannen.
(Christoph Arnowski, BR)
13.40 Uhr.
Khubaib-Ali Mohammed (Nebenklage-Anwalt der Opfer des Bombenanschlags in der Kölner Keupstraße): Wenn Sie (Verteidiger) erst jetzt lange nach Besichtigung ihre Bedenken vortragen, drängt sich Verdacht der Prozessverschleppungsabsicht auf. Zu Vorschlag World Conference Center: Angesichts der Dimension würden Angeklagte zum bloßen Objekt degradiert, dann würde wohl wegen Verletzung der Menschenrechte interveniert. Verteidigerbank ist fast immer einsehbar.
Götzl: Die beiden Richterinnen können nicht einsehen. Zu Heer: Sie können sich auch weiter hinten in die zweite Reihe setzen.
Heer: Ich setzte mich nicht an den Katzentisch, ich möchte neben meiner Mandantin sitzen.
Es folgt Wortgefecht Götzl/Heer.
Heer: Ich habe das Wort. Sie haben das Wort nicht. Wenn ich das Wort habe, lasse ich mich nicht unterbrechen. Katzentisch verbitte ich mir.
Götzl: Bietet an, die Nebenkläger größer zu projizieren.
Nebenklage-Anwältin: Ich habe nichts dagegen, vergrößert zu werden, aber morgen kommt meine Mandantin, die will nicht gesehen werden.
Heer: Warum haben Sie mir mitgeteilt, dass ich alles sehe und es ist anders?
Götzl: Es sind ja auch die Angeklagten nicht zu sehen.
Antrag der Verteidigung von Holger G.: Die Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft sollen weiter rutschen, nicht unmittelbar auf dem Schoß sitzen.
Sturm: Bundesverfassungsgericht hat gerade nicht explizit über diesen Saal entscheiden. Verweis in den Anträgen völlig irrelevant. Beschleunigungsgebot streitet ausschließlich für die inhaftierte Mandantin. Insbesondere wäre es Zschäpe nicht zuzumuten, im Falle der notwenigen Wiederholung, die Anklageschrift zweimal zu verlesen.
Diemer: Unbegründet abzulehnen, die Öffentlichkeit in ausreichender Weise hergestellt, entspricht Gesetz. Öffentlichkeit heißt nicht, dass jeder Interessierte Zutritt haben muss, es muss nur die Möglichkeit bestehen. Verlegung in größeren Raum bzw. Halle birgt die Gefahr eines Schauprozesses. Öffentlichkeit muss prozessuales Geschehen wahrnehmen können, nicht ins Gesicht blicken können. Nonverbale Gesten müssen nicht von der Öffentlichkeit verfolgt werden können, das habe noch kein deutsches Gericht so entschieden. Laptop könne einfach abgedreht werden. Akteneinsicht ist gewährt, kann jederzeit in Anspruch genommen werden. Kein Grund für Unterbrechung für zwei Tage. Zur Zeugenvernehmung der Bundesanwälte: Die Entscheidung ist gefallen, sie war richtig, hat keinen Einfluss auf Schuldzuweisung.
Heer: Erwiderung: Es geht nicht nur um Öffentlichkeit, es geht grundsätzlich um den Saal und seine Ungeeignetheit. Mich wundert, wie Sie unsubstanziiert zu meinem Antrag Stellung nehmen. Die Öffentlichkeit ist ein grundlegendes Verfahrensprinzip.
Götzl: Antrag wird beraten, 14.15 Uhr fortgesetzt.
(Holger Schmidt, SWR)
Senat berät über Antrag.
Generalbundesanwalt hält ihn für zulässig, aber unbegründet.
Stilblüten: Heer und Götzl streiten über das Wort "Katzentisch".
Götzl regt an, Wohlleben könne weiter nach links rücken. Gelächter im Saal.
Götzl ist erkennbar bemüht, die Fassung zu bewahren. Heer provoziert mit Besserwissereien und dem Kampf um das Wort.
(Christoph Arnowski, BR)
14.20 Uhr.
Anträge werden zurückgewiesen: sowohl größerer Saal als auch Unterbrechung für zwei Tage.
Begründung: sehr juristisch, im Klartext jedermann muss nicht unter allen Umständen zu jeder Zeit Zutritt haben, Rechtsprechung BGH und andere OLG. Strafprozesse finden in der, aber nicht für die Öffentlichkeit statt. Keine Pflicht, größere Säle zu nutzen. Justizverwaltung hat dem Gericht den Saal zugeteilt und für bauliche Änderungen gesorgt. Zeuge wird so platziert werden, dass ihn alle Prozessbeteiligten sehen werden. Öffentlichkeit wird das Verfahren so verfolgen können, wie es für nicht direkt Beteiligte notwendig ist. Verteidigerbank kann nicht mitgelesen werden.
Heer wartet schon, um sofort Antrag stellen zu können, Finger auf der Sprechtaste. Er will Begründung ausgehändigt bekommen, um es dann 20 Minuten beraten zu können, weil Kopieren auch ein paar Minuten dauert.
Bis 14.45 Uhr unterbrochen.
(Christoph Arnowski, BR)
14.55 Uhr.
Fortsetzung. Wieder kleines Wortgefecht.
Heer: Ich sage Ihnen, worum es geht, wenn Sie mir das Wort erteilen.
Götzl. Ich gebe Ihnen aber nicht das Wort.
Gegenvorstellung zum Beschluss des Senats.
Es wird beantragt, einer dienstlichen Stellungnahme des Vorsitzenden, wie die Zeugen platziert werden sollen - plus Skizze.
Verteidigung hat vorgetragen, warum große Bedenken zu Akkreditierung. Mehr könne erst nach Akteneinsicht vorgetragen werden.
Stahl: Kollege Mohammed hat weitere 60 mögliche Nebenkläger angeführt, aufgrund Auswertung der Akten. Vielleicht sind wir in 3, 4, 6 Wochen soweit, dass der Saal nicht mehr ausreicht.
Nebenklageanwalt Bliwier: Verteidigung sollte sich auf die Situation beschränken, die jetzt gegeben ist.
Antrag: Jetzt mit dem Prozess weitermachen und mit Feststellung der Personalien zu beginnen.
Heer: Man kann Antrag stellen, wenn Beweisaufnahme beginnt, aber wir wollen natürlich unnötige Unterbrechungen vermeiden.
Götzl erläutert Zeugensituation: Das reicht mir nicht als dienstliche Stellungnahmen.
Entscheidung wird über Gegenstellung zurückgestellt.
Heer stellt wieder Antrag, sagt aber nicht den Inhalt.
Götzl wirkt ungehalten, es geht um weiteren Antrag auf Aussetzung des Verfahrens, Besetzung der Bundesanwaltschaft.
Heer: Bestimmte Sitzungsvertreter sind nicht geeignet.
Heer: Beanstande, dass Sie mit Vernehmung zur Person beginnen wollen (ohne dass ich Anträge stellen kann).
Götzl: Ich beanstande dies.
Heer: Es geht um Anträge, die jetzt gestellt werden müssen. Ich beantrage erneut, jetzt Anträge zu stellen
Beratung, Fortsetzung 15.15 Uhr.
(Holger Schmidt, SWR)
Feststellung der Personalien.
Zschäpe: keine Angaben, Feststellungen aus der Akte.
André E.: Name, Geburtsdatum und Adresse. Dann in breitem Dialekt: Mähr sohg isch nüsch, dann Akte.
Holger G.: Bestätigt die Angaben immer mit Ja und sagt bei Adresse: wie in der Akte.
Wohlleben: Nickt zu allen Angaben.
Carsten S.: Sagt zu allen Angaben "ja".
Verlesung des Anklagesatzes durch Diemer.
(Ayca Tolun, WDR)
15.45 Uhr.
Götzl fragt Zschäpe nach ihren Personalien.
Unruhe im Saal. Der erste Augenblick - zumindest für mich -, in dem Beate Zschäpe plötzlich lebendig, ja plötzlich echt werden könnte. Bisher ist sie irgendwie, trotz ihres bisher doch recht prominenten Aussehens mit Businessdress und ihrer zur schau gestellten entspannten Beweglichkeit eine Art Abbild ihrer selbst. Aber es ist nur ein Moment. Ihr Anwalt teilt mit, sie werde sich auch zu ihren Personalien nicht äußern. Hätte sie geredet, wäre sie ganz plötzlich echt geworden. Hat sie aber nicht, schade.
Götzl liest die Personalien der anderen vier Angeklagten vor und lässt bestätigen. Sie antworten jeweils mit kurzem "ja" - hörbar, einmal sehr sächsisch, einmal sehr zackig. Von der Pressetribüne sind nur zwei von ihnen zu sehen, aber auch sie waren bisher gefühlt eher ein Abbild ihrer selbst, irgendwie auch nicht echt. Jetzt haben sie eine Stimme und sie fühlen sich - anders als Zschäpe - doch echt an.
(Christoph Arnowski, BR)
Wohlleben liest mit im Ordner seines Anwaltes, Zschäpe sitzt aufrecht und blickt auf den vorlesenden Bundesanwalt. Keine Regung, sie schaut ernst, die Hände auf dem Oberschenkel verschränkt.
Wohlleben und Holger G. haben die Hände und Arme auf der Brust verschränkt, Carsten S. wieder leicht abgedreht.
Anklage schildert die Taten mit vielen Details, bisher keine Regungen sichtbar bei Angeklagten, aber auch nicht bei Nebenklägern.
(Matthias Reiche, MDR)
15.35 Uhr bis 16.40 Uhr.
Verlesung des Anklagesatzes. Es geht bei Carsten S. und Wohlleben um Beihilfe, bei Holger G. und André E. um Unterstützung einer terroristischen Vereinigung, bei E. zusätzlich noch um Beihilfe bei zwei Morden.
Hauptangeklagte ist Zschäpe, die als Mittäterin angeklagt wird. Zschäpe hört ungerührt der Verlesung der Anklageschrift zu, macht den Eindruck mit den aufgelisteten Verbrechen nichts zu tun zu haben. Angeblich hatte Zschäpe immer die Aufgabe, die Reisebewegung der beiden NSU-Mörder Mundlos und Böhnhardt abzutarnen. Als Beweis, dass alle Taten auf Konto des NSU gehen, gilt DVD, die dann nach dem Tode ihrer Kameraden von Beate Zschäpe verteilt wurde. Auch Beteiligung an Raub- und Banküberfällen, räuberischer Erpressung, versuchte Morde werden Beate Zschäpe angelastet. Bei Zschäpe hält Bundesanwaltschaft die Sicherungsverwahrung für angemessen.
(Paul-Elmar Jöris, WDR)
16.35 Uhr.
Verlesung Anklagesatz. Zschäpe liest anfangs auf dem PC offensichtlich mit, während Diemer vorträgt: zehn Morde, zwei Bombenanschläge, 15 Banküberfälle, Brandstiftung in besonders schwerem Fall. Holger G. Unterstützung. Zschäpe kam mit Böhnhardt und Mundlos überein, sich zu Vereinigung zusammenzuschließen. Nach Untertauchen schotteten sie sich gegenüber Umfeld ab. Banküberfälle zur Finanzierung. Nach Motto: "Taten statt Worte". Durch Verwendung derselben Waffen Serie gekennzeichnet. Waren völlig aufeinander angewiesen. 2002 in Brief an Szenemagazine verwendeten sie Namen "NSU". In Verfolgung ihrer Ziele töteten sie acht Menschen türkischer, einen griechischer Herkunft.
Zschäpe war an Planung der Taten beteiligt (Handy klingelt im Zuhörerraum). Bombenanschläge dienten ihrer rassistischen Ideologie, Keupstraße mindestens 18 Personen verletzt.
Schließlich Gewalt gegen Polizei: Schusswaffenanschlag auf zwei Beamte, von hinten an Streifenwagen in Heilbronn, aus kürzester Entfernung Kopfschüsse.
Ab 2001 fertigte Gruppe Bekennung, ab Mai 2006 DVB mit "Paulchen Panther". 15 Exemplare verteilte Beate Zschäpe später.
Aufgabe Zschäpe bei Überfällen: Legendierung der Abwesenheit von Mundlos/Böhnhardt. Verwaltung Geld.
Nachdem Angeklagte vom Tod von Mundlos/Böhnhardt erfahren hatte, zündete sie Wohnung an. Legte Brand, um gemäß früherer Verabredung Beweise zu vernichten. Verlies Wohnung ohne Rettungsbemühungen und nahm DVD mit "Paulchen Panther"-Film.
(Christoph Arnowski, BR)
Bis 17 Uhr unterbrochen.
(Ayca Tolun, WDR)
Es stellt sich zugegeben bei der momentanen Situation möglicherweise als ein Luxusproblem dar, aber es stört und berührt trotzdem sehr unangenehm. Der Richter kann nicht mal einen der Opfernamen auch nicht annähernd richtig aussprechen (gilt für Türkisch, Persisch und Arabisch gleichermaßen). Es ist auch sofort klar, dass es auch nie ein Bemühen in diese Richtung gegeben hat.
Immerhin gibt es die Möglichkeit, die Namen in Lautschrift umzuschreiben. Ich frage mich ernsthaft, bei so einer Mordserie, bei so viel staatlichem Versagen: Ist es nicht das Mindeste, dass der Richter/das Gericht die Opfernamen richtig ausspricht oder ein ernsthaftes bemühen erkennen lässt?
Türkische Namen gibt es in Deutschland inzwischen in der dritten Generation. Drei-Generationen-Deutsche sind in der schule und im Alltag mit türkischen Namen aufgewachsen. Was wäre, wenn die Namen nicht türkische (persische oder arabische), sondern englische, französische oder israelische Namen wären? Wie viel unbewusste Nicht-Wertschätzung steckt dahinter?
(Matthias Reiche, MDR)
Angesichts einer möglicherweise wachsenden Zahl von Nebenklägern bringt Richter Götzl eine Abtrennung des Verfahrens zum Sprengstoffanschlag Keupstraße ins Spiel, Nebenkläger sollen sich bis Mittwoch dazu äußern.
Wohllebens Anwalt Klemke bringt Besetzungsantrag gegen zwei Ergänzungsrichter.
Auch Zschäpe-Anwältin Sturm bringt jetzt Besetzungsrüge gegen zwei Ergänzungsrichter.
Pressetribüne lichtet sich langsam. Sollte das gesamte Verfahren so laufen, wird auch das allgemeine Interesse sehr bald erlahmen und sich die Öffentlichkeit abwenden.
Für heute Schluss.
Hinweis
Diese Texte sind eine Auswahl der Mitschriften der Reporter der ARD und des BR während der zentralen Verhandlungstage im sogenannten "NSU-Prozess", eines beispiellosen Verfahrens der deutschen Rechtsgeschichte. Wir dokumentieren diesen "Originalton", weil es in der deutschen Praxis des Strafprozessrechts, selbst bei derartig wichtigen Verfahren, kein offizielles und umfassendes Gerichtsprotokoll gibt. Wir erfüllen damit unsere Informationspflicht, um allen, die keinen der begehrten Sitzplätze im Gerichtssaal erhalten haben, einen - durchaus auch subjektiven - Eindruck der Prozessereignisse zu vermitteln. Die Zusammenfassungen der sogenannten "Saalinfos" unserer Reporter sind redaktionell bearbeitet, zum Teil gekürzt. Es wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben und es kann natürlich auch keine Gewähr für die Richtigkeit jedes einzelnen Wortes gegeben werden. Die Redaktion distanziert sich ausdrücklich von den Inhalten der Aussagen der Prozessteilnehmer.