NSU-Prozess


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NSU-Prozess: Gerichtssaal-Protokoll 21. Verhandlungstag, 10.07.2013

Auch am 21. Verhandlungstag geht es hauptsächlich um den Mord an Enver Simsek am 9. September 2000 in Nürnberg. Dazu werden mehrere Zeugen gehört. Sie beschreiben sehr detailliert den Tatort.

Von: Holger Schmidt, Rolf Clement

Stand: 10.07.2013 | Archiv

NSU Prozess Gerichtsprotokoll | Bild: BR

Andere Zeugen geben an, Männer in Fahrradkleidung am Fahrzeug des Blumenhändlers gesehen zu haben. Darüber hinaus gibt es Zeugenbefragung zum Mord an Abdurrahim Özüdogru.

Zeugen:

  • Helmut K. (Polizeibeamter, Spurensicherung im Mordfall Simsek)
  • Günther B. (Zeuge im Mordfall Simsek)
  • Achim E. (Zeuge im Mordfall Simsek)
  • Rainer G. (Polizeibeamter, Ermittlungen im Mordfall Özüdogru)
  • Andreas H. (Zeuge im Mordfall Simsek)

ARD-Reporter über das Geschehen im Gerichtssaal

(Holger Schmidt, SWR)
Zeuge Helmut K., Kriminalhauptkommissar, 53, Polizeipräsidium Nürnberg, Erkennungsdienst.

Ich war der Spurensicherer in diesem Fall. Gegen 15.30 Uhr vom Dienstgruppenleiter des Kriminaldauerdienstes verständigt. Kam zum Tatort, sah den Mercedes Benz Kastenwagen und den Blumenstand, Klapptisch, Blumenkübel und Sonnenschirm.

Waren bereits mehrere Kollegen da: Polizeioberkommissar W. und Kollege, Mordermittler (Zeuge gestern). Tür stand auf, Blutlache war zu sehen. Begann mit Spurensicherung, dabei habe ich gleich an der Einstiegskante eine erste Patronenhülse aufgefunden, Kaliber 6.35, dann später weitere Patronenhülse 7.65. Man muss sagen, die umgestürzten Pflanzenkübel und die Pflanzenreste stammten wohl vom Todeskampf und vom Rettungsdienst. Außen zwei frisch angebrannte Zigarettenkippen, ein Kaugummi und eine Plastikumhüllung. Außen habe ich dann noch Eindruckspuren, Schuhe und Reifen gesichert.

Blumenstand war unauffällig, sah nicht nach Kampfspuren aus. Tisch war aufgestellt, nichts weiter aufgefallen. Nach der ersten Spurensicherung Fahrzeug sichergestellt und gegen 19.30 Uhr auf die Dienststelle gebracht. Dort wurde weiter gesucht: Zwischenregale und Pflanzenkübel rausgeräumt. Konnte weitere Patronenhülse am Radkasten und der Regalhalteleiste finden.

Wir stellten einen Defekt im Dach fest, schwarze Umrandung, musste ein Durchschuss sein. Landeskriminalamt (LKA) verständigt, die haben sich den Defekt weiter angesehen. Führerhaus: Beifahrertür geschlossen, unauffällig, weder Durchsuchung, noch Kampf. Handschuhfach nach unten geklappt, zwei Trinkbecker standen da, Frühstückstüte. Faserabklebungen von den Sitzen, DNA und Fingerspuren gesichert. Auch Fingerspuren an Kotflügel und Beifahrertür. Schiebetür frei von Fingerspuren. Nachdem klar war, dass die Täter die Tür geschlossen haben mussten, haben wir den Griff der Tür abgeschraubt und zur DNA-Analyse zu bringen.

(Rolf Clement, DLF)
Zeuge Helmut K., 53 Jahre, Spurensicherer.
Hatte Bereitschaft, wurde um 15.30 Uhr alarmiert.

Als er kam, war Simsek nicht mehr da, war im Krankenhaus. Beschreibt Lage am Tatort wie gestern. Schiebetür des Kastenwagens war offen, man konnte die blutverschmierte Ladefläche sehen. Erste Patronenhülse, Kaliber 7.65, an Schiebetür gefunden. Beschreibt weitere Hülsenfunde der beiden einschlägigen Kaliber. Umgestürzte Blumenkübel wohl durch "Todeskampf" und Rettungssanitäter. Zwei frisch abgebrannte Zigarettenkippen. Fußspuren fotografiert. Blumenstrauß war unauffällig, keine Kampfhandlungen. Nach den ersten Spurensicherungen Fahrzeug sichergestellt, gegen 19.00 Uhr auf die Dienststelle geschafft, weitere Spurensicherungen. Weitere Patronenhülse am linken hinteren Radkasten. Bei weiterer Spurensicherung Defekt im Dach entdeckt, war Durchschuss. Führerhaus war von Ladefläche getrennt. Beifahrertür war geschlossen. Gab keine Hinweise auf Durchsuchungen und Kampfhandlungen. Im Führerhaus Trinkbecher und Kleingeldbehälter. Fingerspuren vorne da, hinten aber nicht. Schiebetür musste nach der Tat geschlossen werden, deswegen Türöffner abgeschraubt und nach DNA-Spuren gesucht.

Richter Manfred Götzl: Fünf Hülsen wurde gefunden, K. spricht von sechs. Eine weitere ist aus den Kleidungsstücken herausgefallen, auch ein Projektil 7.65.
Am Ende waren es jeweils sechs.
Blutlache: 70 mal 50 Zentimeter groß, zum Teil noch flüssig. Wandseiten waren mit feinen Blutspritzern behaftet, 1,85 Meter hoch, bis unter die Decke, 1 Meter breit, zahlreich, zur Decke hin weniger. In der Blutlache Zahn von Simsek, ein Handy und eine Schachtel HB, alles vom Simsek.
War an einer stark befahrenen, zweispurigen Straße, auch ein hoch frequentierter Fahrradweg.
Ende der Vernehmung von K.

(Rolf Clement, DLF)
Zeuge Günther B., 63, pensionierter Elektriker.
Fuhr am 9. September 2000 zur Tatzeit am Parkplatz vorbei, hörte "metallische Schläge", sah zwei junge Männer weglaufen, 20 oder so, mit kurzen Haaren, in Radlerkleidung. Konnte nicht langsamer fahren oder halten, weil viel Verkehr war. "Da waren ja noch andere unterwegs."
Hatte mit seinem Sohn einen Ausflug gemacht. War auf der Rückfahrt, daher glaubt er: gegen 14.00 oder 15.00 Uhr. Hatte sich gemeldet nach Berichterstattung in der Zeitung.

Wie schnell sind sie vorbeigefahren?
Also nicht über 50 (Gelächter im Zuschauerraum).
Vorhalt aus Aussage vom 15. September 2000: Kam gegen 11.50 Uhr auf dem Hinweg (zur Wohnungsauflösung des Schwiegervaters) an dem Stand vorbei, Stand fiel auf. "Kann man da was verkaufen?" Rückfahrt 14.00 Uhr, ca. 40 km/h.

Beschreibt Kastenwagen, kann sich an Inhalt der Aufschrift nicht mehr erinnern. Schiebetür war auf. Auffällig war Radlerkleidung, "weil ich keine Räder gesehen habe, nichts". Nach den Schlägen haben wir herübergeschaut, gleich, dann rannten die weg.

Hat damals angegeben, ein Mann habe einen Fuß auf die Ladefläche gestellt und dort verharrt. Machte eine Bewegung ins Ladeninnere.
Ob er etwas in der Hand hatte, konnte ich nicht sehen. Im Fahrzeuginneren habe ich eine weitere Person gesehen.

Nachdem er den Wagen fast schon passiert hatte, waren die Geräusche zu hören. Kann sich an diese Aussage nicht mehr erinnern, auch nicht an das, was er gesagt hatte. Aber er gibt an, dass wegen der Hitze die Autofenster offen waren. Heute: Radio war aus. Damals: Radio war an. Schläge - damals wie heute - hörbar.

Einer hatte eine Baseballmütze auf (Aussage damals).
Könnte stimmen.
Schwarze Radlerhosen, war wohl auch dunkel, evtl. weiß mit drin. Halbschuhe (identisch mit Aussage damals). Zeit für Rückfahrt in Aussage damals: 12.45 bis 12.55 Uhr.

RA Sebastian Scharmer (Nebenklage-Anwalt der Tochter des ermordeten Mehmet Kubasik): Vernehmungen am 15. November, einige Details bei einem Telefonat geklärt, Oktober 2000 nochmal. Dann nochmal 2011 von der Kriminalpolizei München.
Keine Fotos gezeigt.
RA Murat Sertsöz (Nebenklage-Anwalt der Opfer des Bombenanschlags in der Kölner Keupstraße) will Fotos aus Keupstraße vorlegen. Ordner muss gesucht werden.
5 Minuten Pause.

(Holger.Schmidt, SWR)
RA Scharmer: Wie oft vernommen?
B: Einmal im Präsidium, ein Anruf wegen Details und ein Besuch 2010, seit dem nicht mehr.
S: Wurden Ihnen Fotos gezeigt?
B: Nein.

RA Sertsöz will Foto vorlegen. Muss erst gesucht werden. 5 Minuten Pause. Chaos. Sertsöz findet die Bilder nicht. Nochmals 5 Minuten Pause. Götzl gereizt.
Sertsöz hält Bilder einer Überwachungskamera in der Keupstraße und Fahndungsplakat vor.
B: Ich kann nur ungefähr die Größe bestätigen, Kleidung war wesentlich sportlicher. Gesichter und sonstige Themen kann ich nichts dazu sagen, kann ich mich auch nicht erinnern. Aber die Größe müsste ungefähr passen.

RA Seda Basay (Nebenklage-Anwältin der Witwe Simseks): Können Sie sich erinnern, dass Ihnen 2007 diese Bilder schon mal vorgehalten wurden?
B: Nein.
Basay: Doch!
Zeuge kann sich nicht erinnern.
Basay hält den Vermerk vor: "Ich konnte mir soeben in Ruhe die Videosequenz ansehen …"
Zeuge erinnert sich nicht mehr daran.

RA Nicole Schneiders (Anwältin des Angeklagten Ralf Wohlleben): Sind Sie mal gefragt, was die Personen für ein Typ waren?
B: Nein.
Vorhalt Schneiders aus der Akte: "Es waren keine hellen, norddeutschen Typen, sondern braungebrannte mit dunklen Haaren."
Zeuge hat keine Erinnerung.

(Rolf Clement, DLF)
Gericht hat die Akten gefunden. Ergebnis: Die Bezeichnung durch den Nebenklägeranwalt stimmte. Nun streitet man über die Blattnummer. Nun soll der Anwalt nach vorne kommen, das will der aber nicht. Götzl droht mit der Mittagspause, da könnte man ja dann suchen. In der Akte findet der Anwalt das Bild, ist auf dem großen Bildschirm nicht zu erkennen. Götzl wirkt genervt. Nun läuft das Verfahren still ab im Zwiegespräch zwischen Anwalt und Zeuge, die Stimmung wird gereizter. Die Bilder werden gedreht.

Götzl: "Fragerecht hat der Nebenklägervertreter, Fragen habe ich noch nicht gehört."
Nun protestieren die anderen, dass sie nichts sehen können.
Götzl - etwas ironisch: "Es geht ja auch darum, dass der Zeuge die Bilder sieht."
Nebenklage-Anwalt kehrt zurück, sichtlich frustriert: Personenbeschreibung und Bilder von Keupstraße: Kommt Ihnen da eine Erinnerung an die Täter?
B: Ich kann nur die Größe bestätigen, die "dürfte ungefähr passen", sonst kann ich nichts erkennen.

Weitere Nebenklage: 7. Mai 2007 - Wurden Ihnen diese Bilder da vorgelegt nach den Unterlagen?
B: Wo soll die Befragung stattgefunden haben?
Nebenklage: In Nürnberg.
B: Muss ich im Kalender nachschauen, kann ich mich nicht erinnern.

Weitere Vorhalte - weitere Erinnerungslücken.
Damals hat er gesagt, es könnte eine Person gewesen sein, die damals vor dem Kastenwagen stand.

Weitere Nebenklage: Sie haben damals ausgesagt: Das war aber ein komisches Benehmen.
B: Bezog sich darauf, dass da jemand in Radlerkleidung steht, aber kein Rad, die Knallgeräusche.
Nebenklage: Stand ein weiteres Fahrzeug neben dem Kastenwagen?
B: Nein, habe ich nicht gesehen.

RA Scharmer: Worum ist es 2010 in der Vernehmung gegangen?
B: Wurde nachgefragt, was 2000 besprochen wurde.
Scharmer: Wurden Bilder und Videos gezeigt?
B: Kann ich mich nicht daran erinnern.

Nebenklage: Haben Sie Sport gemacht?
B: Ja, Bergsteigen etc.
Nebenklage: Dann kennen sie Radlerkleidung?
B: Ja.

RA Schneiders: Wurden Sie gefragt, welcher Typ die Männer waren?
B: Nein.
Schneiders: Sie haben damals gesagt: Südeuropäer.
B: Keine Erinnerung.
Schneiders: Sie haben damals gesagt: dunkle haare, braune Hautfarbe.
B: Keine Erinnerung.

Mittagspause bis 13.15 Uhr.

(Holger.Schmid, SWR)
Zeuge Achim E., 29, Heilerziehungspfleger, Sohn des Zeugen B.
Sehr verhalten, schleppend, kann sich an nicht viel erinnern. Eine zähe Angelegenheit, die keinen weiter bringt. Immerhin erinnert er sich an die Vorführung eines Videos, aus Bonn (gemeint ist: Kölner  Keupstraße).

Zeuge Rainer G., 48, Kriminalhauptkommissar, LKA Bayern, Ermittlungen im Fall Özüdogru.
Nachvernehmung zu Einzahlungen von Frau G.: Es gab zwei Einzahlungen an diesem Tag, eine um 8.55 Uhr und eine um 15.51 Uhr. So konnte das mit der Schmidt-Bank abgeklärt werden.

(Holger Schmidt, SWR)
Zeuge Andreas H., 39, Rettungsassistent, Mordfall Simsek.
Wollte Blumen kaufen. Als ich angekommen bin, war da ein anderes Pärchen mit dunkelblauem Mercedes. Sagten, da ist niemand. Sind gefahren. Ich hatte Zeit, wartete. Kam mir nach 10 Minuten komisch vor. Antwort: Vor einer Viertelstunde sei Streife vorbeigefahren, kommt bestimmt. Habe die Umgebung mir nochmals angesehen, gerufen, habe nochmals die Polizei angerufen, Ergebnis mitgeteilt. Die haben eine Streife geschickt.

Polizei öffnet Beifahrertür, haben von hinten reingesehen, seitliche Tür aufgemacht, Simsek gefunden. Zuerst Bluterbrechen angenommen, dann Patronen gesehen und wusste: keine internistische Ursache. Schnaufte, müssen wir was machen, mit Tragetuch aus dem Fahrzeug gerettet und außen - soweit es möglich war - versorgt.

Götzl: Lage?
H: Rückenlage, auf Blumenkasten gelegen.
G: Was haben sie an Rettungsmaßnahmen getroffen?
H: Absaugen im Rachenraum, hatte Pumpe und Katheter dabei. Versucht, Mund-Rachenraum freizumachen. Versucht zu beatmen. Dann kam Rettungsdienst. Gemeinsam versucht. Dann kam Notarzt.
G: Person im Mercedes beschreiben?
H: Nein, keine Erinnerung.

14.30 Uhr.
Ende.

Beschluss: Antrag des Angeklagten André E. abgelehnt. Senat lehnt nach Ermessen ab, trotz Entfernung und Anreise. Umstände könnten zur Sprache kommen, die mittelbar auch ihn betreffen. Dies gilt auch für Zeugen aus dem Umfeld der Angeklagten. Gegen eine Beurlaubung spricht auch, dass er mehrfach Anträge gestellt hat. Prozessökonomie gebietet, keine Rücksicht zu nehmen, deswegen keine Beurlaubung möglich. Einer Beurlaubung steht aber auch §129a StGB entgegen: Enge Verzahnung mit den anderen Taten macht Beurlaubung nicht möglich.

Hinweis

Diese Texte sind eine Auswahl der Mitschriften der Reporter der ARD und des BR während der zentralen Verhandlungstage im sogenannten "NSU-Prozess", eines beispiellosen Verfahrens der deutschen Rechtsgeschichte. Wir dokumentieren diesen "Originalton", weil es in der deutschen Praxis des Strafprozessrechts, selbst bei derartig wichtigen Verfahren, kein offizielles und umfassendes Gerichtsprotokoll gibt. Wir erfüllen damit unsere Informationspflicht, um allen, die keinen der begehrten Sitzplätze im Gerichtssaal erhalten haben, einen - durchaus auch subjektiven - Eindruck der Prozessereignisse zu vermitteln. Die Zusammenfassungen der sogenannten "Saalinfos" unserer Reporter sind redaktionell bearbeitet, zum Teil gekürzt. Es wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben und es kann natürlich auch keine Gewähr für die Richtigkeit jedes einzelnen Wortes gegeben werden. Die Redaktion distanziert sich ausdrücklich von den Inhalten der Aussagen der Prozessteilnehmer.


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