NSU-Prozess: Gerichtssaal-Protokoll 81. Verhandlungstag, 30.01.2014
Im Mittelpunkt dieses Prozesstages steht der Mordanschlag auf die beiden Polizisten Michèle Kiesewetter und Martin A. in Heilbronn 2007, den A. knapp überlebte. Ein LKA-Beamter gibt Auskunft über die Ermittlungen am Tattag sowie in der Folgezeit.
Hierbei werden erneut Pannen in der Ermittlungsarbeit deutlich: Zwar wurde sofort eine Sonderkommission gebildet, diese blieb aber auf Heilbronn beschränkt. E-Mails wurden nicht ausgewertet, Phantombilder nicht veröffentlicht und rassistische Vermerke in den Akten gemacht.
Zeugen:
- Herbert T., LKA Baden-Württemberg (Mordfall Kiesewetter)
- Martin Gi., BKA (Mordfall Kiesewetter)
ARD-Reporter über das Geschehen im Gerichtssaal
(Heike Borufka, HR)
9.45 Uhr
Zschäpe: brauner Pullover, heller Rollkragenpulli darunter, olivgrüne Hose, Haar offen.
Zeuge: Herbert T. (64), Kriminalbeamter im Ruhestand aus Stuttgart
Götzl: Geht um den 25.4.2007 und die Theresienwiese. Zunächst groben Überblick über Ermittlungen nach dem Tatgeschehen geben. Was wurde veranlasst?
T: Mit dem Ursprung hatte das LKA noch nichts zu tun, zunächst Sonderkommission "Parkplatz". Haben am 16.2.2009 übernommen. Weiß, dass Zeuge S. vom Radweg aus ein Polizeifahrzeug mit offenen Türen sah. Sah, dass blutüberströmter Polizist raushing. Fuhr zurück, Taxifahrer rief Polizei. Erste Streife stellte fest, dass Michèle Kiesewetter von Fahrerseite raushing, keine Lebenszeichen mehr, bei Herrn A. noch Lebenszeichen, kam dann mit dem Hubschrauber in die Klinik.
Fast die ganze Stadt wurde abgeriegelt und kontrolliert. 165 Schausteller waren auf der Theresienwiese, Personalien wurden festgestellt. Zeugen vernommen. Gab mehrere Zeugen, die blutverschmierte Männer sahen z.B. Ehepaar K., das mit Kind spazieren gehen wollte. Sahen gegen 14.15 Uhr einen Mann, der nach Hubschrauber schaute und in einen Busch sprang. Anderer Zeuge, dem Vertraulichkeit zugesichert war, sah Audi. Ein Mann sprang kopfüber in ein Fahrzeug, fuhr mit quietschenden Reifen weg. Ein anderes Fahrzeug wurde Nähe Tatort festgestellt. 3 Männer saßen daneben und tranken. Zusammenhang wurde nicht festgestellt.
Am 12.5.2009 meldete sich Zeuge M. War mit Fahrrad unterwegs. Sah 2 Männer und eine Frau unter Brücke. Als er nahe kam, entfernte sich einer der Männer zum Neckar. Sah blutverschmierte Hände.
(Thies Marsen, BR)
T: Spurtreffer mit Mordfall von 1993, danach lief die Soko "Parkplatz" mit diesem Schwerpunkt. Am 27.3.2009 wurde festgestellt, dass das eine verunreinigte Spur war und von einer Verpackerin der Firma stammte, die die Watte-Stäbchen herstellte, über 3100 DNA-Erhebungen waren damit hinfällig.
(Heike Borufka, HR)
G: Sind Videoauswertungen gemacht worden?
T: Wurden Funkzellen und Videoaufnahmen von 13 Kamerastandorten (Tankstellen, Hubschrauber, Langzeitaufnahme Tatort, Beerdigung, Grab Kiesewetter) erhoben. 2 Beamte haben nichts anderes gemacht, als die Videos auszuwerten.
Erst im Oktober 2009 hat die Funkzellenauswertung beim LKA begonnen. Hat uns in keinster Weise weitergebracht. Zeitraum erweitert. Nach 4.11.2011 (Auffliegen des Trios) in dieser Richtung nicht mehr weitergearbeitet.
G: Sind Handystandorte erhoben worden?
T: Ja, sowohl von Michèle Kiesewetter als auch von Martin A. Waren völlig schlüssig.
G: Gehen wir mal auf Einzelheiten ein. (gehen einzelne Telefonate durch)
(Zschäpe flüstert mit Rechtsanwältin Sturm, lächelt, schüttelt Kopf, Sturm ebenfalls)
T: Kiesewetter hatte insgesamt 199 Einsätze, 14 oder 15mal in Heilbronn bei Aktion "Sichere City", auch viele verdeckte Einsätze, Heroin bei Frau gekauft und auch bei einem Herrn, beide wurden dann festgenommen. Hat auch Zivileinsätze gemacht in Diskotheken, öffnete hinten die Tür, um Kollegen für Razzien reinzulassen. Dann hat sie Einsätze gemacht, wo man nicht mehr genau sagen kann, warum sie zu den Einsätzen gerufen wurde
G: Demonstrationen? Konflikte? Weiterungen? Vermerke?
T: Also, irgendwelche Drohungen wurden von Kollegen nicht mitgeteilt. Mutter, Bekannten, Freunden gegenüber hat Kiesewetter nichts in der Richtung mitgeteilt. Nur einmal haben ihr 2 Personen Lichtzeichen gegeben und auf einem Parkplatz hinter ihr geparkt. Gab aber offenbar auch keine Probleme.
G: Berührungspunkte mir Rechtsradikalen?
T: Mir sind keine bekannt, aber ich weiß, dass auch nach meiner Zeit, vor allem nach dem 4.11.11 noch mal umfangreiche Ermittlungen gemacht wurden. Aber nach Auskunft von Frau R. (Ermittlerin) sind lediglich 6 Einsätze bekannt.
G: 199 Einsätze 2005-2007.
T: 2006 hat sie in vollem Umfang gearbeitet, 2005 und 2007 nicht
G: Besondere Anlässe? Welche waren das?
T: Weiß nicht. Bereitschaftspolizei in Böblingen hat keine weiteren Auskünfte geben können.
G: Wie kam es zum Einsatz am 25.4.07?
T: Normalerweise hätte die ganze Truppe Urlaub gehabt. Aber die Beamten haben Stunden gesammelt. Und so wollte sicherlich Michèle auch an dem Einsatz teilnehmen. Hat mit Kollege getauscht. A. hat sie dann gefragt, ob sie mit ihm den Einsatz fahren wollte. So kam der Einsatz zustande
G: Überblick über Informationen von Zeugen aus Familie?
T: Keinerlei Auffälligkeiten. Braves, liebes Mädchen, Freizeit war der Kirmesverein, vor der Polizei in Jugend viel Sport, hat Biathlon gemacht, war sehr erfolgreich. Zur Polizei ging sie unheimlich gerne. Ihr Onkel war ebenfalls bei der Polizei.
G: Hatten Sie persönlich Kontakt zur Mutter?
T: Ja, zur Mutter, zur Großmutter und Kurt W. (Opa)
G: Folgen für Angehörige?
T: Opa hat immer nur den Wunsch geäußert zu erfahren, warum Michèle hat sterben müssen, hat sie als seine Tochter angesehen, hat Kindheit und Jugend bei Großeltern zugebracht, hat immer von "meinem Mädchen" gesprochen. Will weniger wissen, von wem getötet, sondern warum.
G: Tüten geholt aus Bäckerei Kamps?
T: Gegen 11 Uhr. Der Martin hat anfangs angegeben, dass nur Michèle in der Bäckerei war. Später daran erinnert, dass er auch da war.
G: Verhalten vor der Tat?
T: Haben Zeitfenster erstellt.
G: Martin A.: Was wurde denn zum Ablauf vor der Tat festgestellt?
T: Erste Vernehmung war etwa 6 Wochen nach dem tragischen Ereignis. War ein Gespräch von 20 Minuten. Konnte sich lediglich daran erinnern, dass er in Heilbronn eingesetzt war. Zu schwerer Verletzung erzählte er, er habe einen Motorradunfall erlitten. So habe es ihm die Mutter erzählt. Hatte kein Motorrad und keinen Führerschein dafür. Später dann: War auf der Theresienwiese und hat geraucht. Nach 10 Monaten konnte er sich erinnern, dass er zweimal mit Michèle auf der Theresienwiese war, zweimal dort geraucht hat, einmal vor dem Auto, dann im Auto. Nach Hypnose erinnerte er sich, dass er mit M. im Auto saß, hätten sich über die Zukunft unterhalten. Sieht im Außenspiegel unteren Gesichtsbereich von Mann. Michele: "Hat man nicht mal hier seine Ruhe, der will bestimmt eine Auskunft." Am Arm des Mannes fiel ihm auf: kaum Haare, muss ein älterer Mensch gewesen sein, dunkler Teint. Hörte Geräusch, wendet sich seinem Fenster zu, dann weiß er nur noch, dass er als dritte Person aus dem Fahrzeug gefallen ist, in Kies fiel und Sorge um seine neue Sonnenbrille hatte. Hat sich in mehreren Vernehmungen Zug um Zug erinnert.
(Heike Borufka, HR)
G: Folgen Tatgeschehen für ihn? Wie erlebt?
T: War bei erster Vernehmung überrascht. Haben ihn behandelt wie rohes Ei, war aber nie fahrig, machte guten Eindruck auf mich. Übten nie Druck auf ihn aus. Ab 23.8.07 wieder arbeitsfähig und hat Studium abgeschlossen. War wieder bei vollen geistigen Kräften. Nur wetterfühlig.
Rechtsanwalt Scharmer (Nebenklage Kubasik): Zu Ermittlungen zu den Einsätzen von Kiesewetter: Wurde anhand von Vorgangsnummern ermittelt, ob sie mit Rechtsextremisten zu tun hatte?
T: Nein.
Scharmer: Haben Sie auch mal überprüft, wie die Sichtverhältnisse bei geöffneter Fahrertür gewesen wären?
T: Nein, weil Arnold gesagt hat, die Türen war zu.
Rechtsanwalt Kienzle (Nebenklage Yozgat): Sechs Einsätze im rechten Umfeld : Geht das genauer??
T: Nur Telefonisch von Frau R. erfahren, aber keine Daten dazu.
Kienzle: Dienststelle in Böblingen konnte keine Anhaltspunkte finden. Wurde bei anderen Dienststellen nachgefragt?
T: Frau R. hat andere Dienststellen aufgesucht, aber das Ergebnis weiß ich nicht.
Kienzle: Wissen Sie, ob bei einer Dienststelle in Göttingen nachgefragt worden ist?
T: Nicht bekannt
Kienzle: Hält vor aus Dienstplan Kiesewetter: "Einsatz bei Demo rechts in Aulendorf, sowie: Gedenktag angesichts der Bombardierung der Stadt Pforzheim"
T: Weiß nichts dazu.
Kienzle: Aus Dienstplan ergibt sich, dass 2006 zehn Einsätze von Kiesewetter stattgefunden haben im Zusammenhang mit der rechten Szene: in Ulm, Pforzheim, Göttingen, Friedrichshafen, Waiblingen, Stuttgart.
T: Kann nichts dazu sagen
Kienzle: Gab auch Einsätze von Kiesewetter im verdeckten Bereich. Sind verdeckte Einsätze auch im Zusammenhang mit Demos bekannt?
T: Weiß davon auch nichts
Rechtsanwalt Martinek (Nebenklage Martin A.): Warum hat LKA übernommen?
T: Glaube, dass die Kollegen überlastet waren, weil eine Polizeidirektion wie in Heilbronn auf Dauer das nicht leisten kann, so eine Sonderkommission
Martinek: Kann eine Polizeidirektion eine Ermittlung überhaupt durchführen?
T: Ich finde das auf jeden Fall schwierig.
Martinek: Warum erst nach zwei Jahren (die Übergabe ans LKA)?
T: Nach zwei Jahren, das ist schon sehr spät!
Martinek: Andere Auswertungen z.B. zu Telefonzellen und PKWs, die gesehen wurden, sind vorher gar nicht durchgeführt worden?
T: Nein, es wurden schon Ermittlungen durchgeführt.
Martinek: Waren Sie mit dem bis dahin zusammengetragenen zufrieden?
T: Schwierig, weil das Verfahren in 3 Händen lag, aber es steht mir nicht zu, die Kollegen in Heilbronn zu kritisieren
(Thies Marsen, BR)
Rechtsanwältin Lex (Nebenklage Boulgarides): Vorhalt aus Akte zur Spur 1380: Formulierung der Ermittler: "Hinweis auf verurteilte Zigeunerin in Mannheim", Spur 209: "Hinweis auf joggenden Neger“, "Lügendetektortest durchgeführt bei einem Herrn St., Angehöriger einer "Roma-Sippe", "Lüge wesentlicher Bestandteil seiner Sozialisation"
T: Bei Lügendetektortest haben wir Ergebnis wörtlich übernommen von einem Psychologen bei der Vernehmung in Belgrad.
Lex: Ist das der übliche Sprachgebrauch auf Ihrer Dienststelle?
T: Mit Sicherheit nicht. Möglicherweise stammt das von der Dienststelle Heilbronn.
(Heike Borufka, HR)
T: Bei Lügendetektortest war ich selbst dabei, war Aussage eines Psychologen in Serbien, der den Test gemacht hat. Ich benutze diese Worte nicht.
Rechtsanwalt Klemke (Verteidigung Wohlleben):
Erinnern Sie sich an Besprechung von 12.5.12, an der u.a. auch Martin A. teilgenommen hat?
T: Waren viele Gespräche mit ihm.
K: Stichwort Phantombild?
T: Habe keine genaue Erinnerung mehr dran. Hatten jeden Tag Besprechungen. Ging um die Veröffentlichung des Phantombildes, mehr kann ich nicht mehr sagen.
K: A.hatte Angst vor Veröffentlichung?
T: Trifft so zu
11.40 Uhr Zeugenvernehmung beendet. Mittagspause
(Thies Marsen, BR)
Zeuge Martin Gi., Bundeskriminalamt, Fortsetzung seiner Vernehmung von letzter Woche.
Rechtsanwalt Rabe (Nebenklage Simsek): Zu Umfeldermittlungen Kiesewetter - wer hat das zusammengetragen, wer war verantwortlich?
Gi.: Sachbearbeiter F. und S.
Rechtsanwalt Klemke (Verteidigung Wohlleben): Zeugenaussage H. erläutern.
Gi.: Hat Mountainbiker gesehen auf der Neckarbrücke, 1,80 groß, schlank und sportlich, Fahrrad oder Kleidung war blau oder gelb. Er hat bei Fotografievorlage nach dem 4.11.11 Ähnlichkeiten zu Mundlos entdeckt.
Ende Zeugenbefragung Gi.
Kurz darauf endet der Verhandlungstag.
Hinweis
Diese Texte sind eine Auswahl der Mitschriften der Reporter der ARD und des BR während der zentralen Verhandlungstage im sogenannten "NSU-Prozess", eines beispiellosen Verfahrens der deutschen Rechtsgeschichte. Wir dokumentieren diesen "Originalton", weil es in der deutschen Praxis des Strafprozessrechts, selbst bei derartig wichtigen Verfahren, kein offizielles und umfassendes Gerichtsprotokoll gibt. Wir erfüllen damit unsere Informationspflicht, um allen, die keinen der begehrten Sitzplätze im Gerichtssaal erhalten haben, einen - durchaus auch subjektiven - Eindruck der Prozessereignisse zu vermitteln. Die Zusammenfassungen der sogenannten "Saalinfos" unserer Reporter sind redaktionell bearbeitet, zum Teil gekürzt. Es wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben und es kann natürlich auch keine Gewähr für die Richtigkeit jedes einzelnen Wortes gegeben werden. Die Redaktion distanziert sich ausdrücklich von den Inhalten der Aussagen der Prozessteilnehmer.