183. Verhandlungstag, 05.02.2015 Ein Außenseiter und ein "Ahnungsloser"
Am Vormittag stand der Angeklagte Carsten S. im Zentrum des Prozess: Ein Zeuge schilderte, wie der junge Mann in die Neonaziszene kam. Am Nachmittag präsentierte sich ein anderer Zeuge als Gipfel der Ahnungslosigkeit.
„Diese Vernehmung wird man als Zeitverschwendung abtun müssen“, kommentierte Nebenklägeranwalt Alexander Hoffmann die Befragung des Zeugen Andreas G.. Zuvor hatten der Vorsitzende Richter Manfred Götzl, die Verteidigung und die Nebenklage über zwei Stunden lang versucht, aus dem Neonazi eine substanzielle Aussage herauszubekommen – vergeblich. Andreas G., der als Rechtsrockmusiker und Mitglied des Neonazinetzwerks Blood and Honour eine durchaus wichtige Figur der deutschen rechtsextremen Szene gewesen war, verstand es vortrefflich seine Rolle herunterzuspielen.
Die Ahnungslosigkeit des Zeugen Andreas G.
Reporter-Tagebuch
„Nicht das ich wüsste“, „Ich erinnere mich nicht“ – so lauteten die Sätze, die am 183. Verhandlungstag des NSU-Prozesses am häufigsten zu hören waren. Obwohl sein damaliger guter Freund Thomas S. zeitweise mit Beate Zschäpe liiert war und Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe bei ihrer Flucht vor der Polizei Unterschlupf gewährt hatte, will G. nichts mitbekommen haben. Noch bei der Polizei hatte er angegeben, dass er keinen der drei überhaupt kenne, erst jetzt im Prozess revidierte diese Aussage. Zumindest Zschäpe habe er „flüchtig“ gekannt.
Er blieb allerdings dabei, dass er die anderen beiden mutmaßlichen NSU-Terroristen nicht kenne. Und das, obwohl die Nebenkläger ihm Textstellen aus Briefen von Uwe Mundlos vorhielten, in denen Mundlos Andreas G. unter dessen Spitznamen „Mucke“ ausdrücklich erwähnt.
Widersprüchliche Erklärungen zum Spitznamen "Mucke"
Woher der Spitzname komme, erklärte der Zeuge wie folgt: Er habe halt etwas mit Musik zu tun gehabt, deshalb „Mucke“. In der polizeilichen Vernehmung hatte sich das noch ganz anders angehört. Da hatte er von einer Diskussion unter Neonazis erzählt, wo man sich einig gewesen sei, dass die „Rassereinheit“ des deutschen Volkes erhalten werden müsse, damit kein „Muckefuck“ entstehe, das sei ja auch kein richtiger Kaffee – daher der Spitzname „Mucke“.
Trotz aller Widersprüche und Erinnerungslücken zeigte der Vorsitzende Richter Manfred Götzl wieder viel Geduld mit dem Zeugen, dessen Befragung übrigens nicht etwa von der Nebenklage beantragt worden war, sondern von der Verteidigung des Angeklagten Ralf Wohlleben. Die wollte mit dem Zeugen offenbar beweisen, dass der NSU zwar durch ein Netzwerk in Chemnitz unterstützt wurde, dass ihr Mandant damit aber nichts zu tun gehabt habe. Ein interessanter Nebenaspekt dabei: Andreas G. spielte zeitweise in der einflussreichen Neonaziband „Noie Werte“, deren Musik auch in dem Bekennervideo des NSU verwendet wurde. Der Sänger der Band Steffen H. ist heute Rechtsanwalt und teilte sich zeitweise eine Kanzlei mit der Wohlleben-Verteidigerin Nicole Schneiders.
Zschäpe-Verteidigung will Nebenklägerin ausschließen lassen
Zum Abschluss des Verhandlungstages verlas Zschäpe-Verteidiger Wolfgang Heer einen Antrag, in dem er forderte, eine der Nebenklägerinnen, eine Anwohnerin der Kölner Keupstraße, nicht mehr als Nebenklägerin zuzulassen, sie sei nicht wirklich gefährdet gewesen. Somit müsste auch ihr Rechtsanwalt Alexander Hoffmann vom Verfahren ausgeschlossen werden. Bis wann der Senat über diesen Antrag entscheiden wird ist unklar.
Carsten S: Ein jugendlicher Außenseiter
Am Vormittag stand Carsten S. im Zentrum des NSU-Prozess, der einzige Angeklagte der ausführlich ausgesagt hat. Eigentlich sollte ein Psychiater ein Gutachten über Carsten S., der morgen seinen 35. Geburtstag feiert, vorlegen. Auch um die Frage zu klären, ob gegen ihn noch nach Jugendstrafrecht verhandelt werden soll. Doch aus Zeitmangel wurde dieser Punkt nun auf Mitte März vertagt. Ausführlich schilderte ein Mitarbeiter der Jugendgerichtshilfe, der ihn mehrfach befragt hat, den Werdegang von Carsten S.: Wie aus einem schüchternen, ausgegrenzten Jungen mit homosexuellen Neigungen ein militanter Neonazi werden konnte, der schließlich die mutmaßliche Mordwaffe besorgte, mit denen der NSU Migranten in ganz Deutschland tötete.
Carsten S.: Akzeptanz erst in der Neonaziszene
Ein autoritärer Vater, eine depressive Mutter – die Familie von Carsten S. war zwar zu DDR-Zeiten deutlich privilegiert, durfte reisen und lebte dank des bei Zeiss in Jena angestellte Vaters zeitweise sogar im Ausland. Doch glücklich scheint die Kindheit von Carsten S. nicht gewesen zu sein. Auch die Schulzeit erlebte der Junge als Außenseiter. Einer, der immer versuchte, irgendwie akzeptiert zu werden und dazu zu gehören, gerade weil er spürte, dass er anders war als seine Mitschüler auf der Realschule in Jena.
Während die anderen Jungen sich für Mädchen interessierten, merkte Carsten S. schon sehr früh, dass er eher dem eigenen Geschlecht zugeneigt war. An ein Coming Out war angesichts des repressiven Vaters und des von Mobbing geprägten Klimas in der Realschule nicht zu denken. Also versuchte Carsten S. seine Neigungen zu unterdrücken und ging auch mal eine Alibi-Beziehung zu einem Mädchen ein.
Anerkennung ausgerechnet in der Neonaziszene
Einen Ausweg aus seiner Situation fand er dann ausgerechnet in der Neonaziszene. Im Berufsschulinternat lernte er einen Neonazi kennen, der ihm von seinem Auftreten her imponierte, und von dem er sich auch sexuell angezogen fühlte. Carsten S. beschloss daraufhin, sich im Jenaer Szeneladen „Madley“ – dort wo er ein paar Jahre später auch die Mordwaffe besorgen sollte – entsprechend einzukleiden, mit Bomberjacke und Armeehose. Und plötzlich erfuhr der schüchterne Junge Anerkennung und Respekt – ausgerechnet in einer Szene, zu deren erklärten Feinden nicht nur Migranten, Juden und Linke zählen, sondern auch Homosexuelle.
Das mutmaßliche Kerntrio des NSU, Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe, lernte er nur am Rande kennen, vor allem hatte Carsten S. Kontakt mit dem Mitangeklagten Ralf Wohlleben. Von diesem soll er auch den Auftrag erhalten haben, nach dem Untertauchen der drei mit diesen telefonisch Kontakt zu halten. Als Böhnhardt oder Mundlos ihm eines Tages schließlich am Telefon mitteilten, sie benötigten eine Waffe, gab er dieses Anliegen an Wohlleben weiter. Der schickte ihn schließlich in den Szeneladen „Madley“ und organisierte das Geld.
Carsten S. erhielt und bezahlte die Waffe, begutachtete sie noch gemeinsam mit Wohlleben und traf sich dann in Chemnitz mit Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe, um die Pistole zu übergeben. Ihm sei zwar klar gewesen, dass das eine Straftat gewesen sei, berichtete S. dem Jugendgerichtshelfer. Er habe aber immer darauf vertraut, dass die drei nichts schlimmes damit anstellen würden.
Ich bin schwul, das wird sich nicht mehr ändern
Carsten S. legte eine rasante Karriere in der Neonaziszene hin, stieg bis in den Bundesvorstand der NPD-Nachwuchsorganisation Junge Nationaldemokraten (JN) auf. Gleichzeitig wurde er sich seiner Homosexualität jedoch immer bewusster. Irgendwann sei ihm klar geworden: „Ich bin schwul, das wird sich auch nicht mehr ändern.“
Er zog sich aus der Szene zurück, ging nach Düsseldorf, wo er ein Studium in Sozialpädagogik absolvierte und schließlich bei der Aids-Hilfe und einem schwul-lesbischen Jugendclub arbeitete. Bis den Neonazi-Aussteiger die Vergangenheit doch wieder einholte und er Anfang 2012 verhaftet wurde. Derzeit lebt er im Zeugenschutzprogramm. Die Beziehung mit seinem Freund, mit der er bis 2012 zusammenlebte, ist daran zerbrochen.