NSU-Prozess


0

NSU-Prozess: Gerichtssaal-Protokoll 296. Verhandlungstag, 12.7.2016

Im Mordfall Halit Yozgat hält das Gericht eine weitere Beweisaufnahme für unnötig. Es geht davon aus, dass der Verfassungsschützer Andreas Temme, der zur Tatzeit im Internetcafé des Ermordeten war, nichts mit dem Mord zu tun hatte.

Von: Tim Aßmann, Christoph Arnowski

Stand: 12.07.2016 | Archiv

NSU Prozess Gerichtsprotokoll | Bild: BR

Für den heutigen Prozesstag wurden keine Zeugen geladen, er wird für verschiedene Verlesungen genutzt. Unter anderem werden mehrere Beweisanträge der Nebenklage zum Mordfall Yozgat abgelehnt. Das Gericht hält eine weitere Beweisaufnahme in dem Fall für unnötig. Es geht davon aus, dass Temme, der zur Tatzeit im Internetcafé des Ermordeten war, nichts mit dem Mord zu tun hatte. Mit dieser Entscheidung räumt der Senat Vermutungen aus, der Verfassungsschutz sei in den Kasseler Mord verstrickt und macht allein den NSU, sprich: Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, für die Tat verantwortlich.

Zeugen:

  • keine

ARD-Reporter über das Geschehen im Gerichtssaal

(Tim Aßmann, BR)
Beginn 9.47 Uhr.
Anja Sturm, Verteidigerin von Beate Zschäpe, ist - nach längerer Abwesenheit - wieder mit dabei. Wolfram Nahrath, Verteidiger von Ralf Wohlleben, wird - wie zuletzt häufiger - erneut durch Rechtsanwalt Alexander Held (Schmalkalden) vertreten.

Richter Manfred Götzl: Zeuge W. ist heute verhindert, umgeladen auf den 26. Juli.
Für heute sind Verlesungen vorgesehen. Beabsichtigt: Behördenzeugnisse Innenministerium Mecklenburg-Vorpommern.

Richter Peter Lang verliest das erste von zwei Behördenzeugnissen.
Schwerin 20. Juni 2016: ... teile ich mit ... Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern liegt im Zusammenhang mit "Weißer Wolf" Deckblattmeldung aus 2002 vor ... anonyme Spende von 2.500 Euro soll bei "Weißem Wolf" eingegangen sein ... "Macht weiter so. Das Geld ist bei Euch gut aufgehoben." ... ist in Deckblattmeldung keine weitere Information dazu enthalten, auch keine weiteren Sachverhalte im genannten Zusammenhang - gezeichnet Verfassungsschutzleiter Mecklenburg-Vorpommern (MV).

Weiteres Behördenzeugnis aus MV: In Ergänzung erkläre ich, Information in Deckblattmeldung vom 4. April 2002 bezieht sich auf menschliche Quelle. Weitere Meldungen, in denen diese Spende Erwähnung findet, sind nicht vorhanden - gezeichnet VS-Leiter MV.

(Christoph Arnowski, BR)
Anträge auf Verlesung der Deckblattmeldungen werden daraufhin von diversen Nebenklägern als erledigt zurückgezogen.

(Tim Aßmann, BR)
Richterin Michaela Odersky verliest Antrag für Durchsuchungen bei David Petereit (MdL MV), um NSU-Schreiben zu Spende an "Weißen Wolf" zu finden.

(Christoph Arnowski, BR)
Beschluss Bundesgerichtshof (BGH) vom 2. Mai 2012:
Im Ermittlungsverfahren gegen Zschäpe und andere: Auf Antrag des Generalbundesanwalts wird die Durchsuchung der Räume des David Petereit inklusive Abgeordnetenbüros und Verlagsräume zur Sicherstellung eines im Jahr 2001 oder 2002 eingegangenen Schreibens vom NSU an ihn als Spendenbrief angeordnet.
Gründe: Der Generalbundesanwalt (GBA) führt Ermittlungsverfahren wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung. Die bestand seit 1998, bezeichnete sich mindestens seit 2001 als "NSU". Ziel schwerwiegende Straftaten auf dem Gebiet der Bundesrepublik. (Es werden die Morde und Sprengstoffanschläge plus mehrere Banküberfälle aufgezählt.)

(Tim Aßmann, BR)
Anordnungsvoraussetzungen liegen vor, Tatsachen aus denen zu schließen [ist], dass sich der gesuchte Brief des NSU beim Betroffenen befindet. Petereit war Herausgeber und Schriftführer von "Weißem Wolf", rechtsextremem Fanzine, das mit ungefähr 20 Ausgaben erschienen ist. Mail-Adresse des "Weißen Wolf" war auf Petereit registriert, Pseudonym "Eiwaz" ist Petereit zuzuordnen. Peterereits Behauptung auf NDP-Homepage, er habe den "Weißen Wolf" erst ab Juni 2005 betreut ist als widerlegt anzusehen. In Ausgabe 18 Textzeile: "Vielen Dank an den NSU. Es hat Früchte getragen. Der Kampf geht weiter."
Der "Weiße Wolf" platzierte 2001 Spendenaufruf. Festplattenauswertung Frühlingsstraße hat ergeben, dass Brief für Bargeldspenden entworfen wurde, Ausgabe 4 des "Weißen Wolf" wurde 1998 in Garage in Jena gefunden, in Ausgabe 18 war dann Danksagung für Spende.

Richter Lang verliest weiter: Anzunehmen, dass sich Brief bei Betroffenem befindet, über Postfach persönlich bei Betroffenem einging. Betroffener ist Mitglied des Landtags von Mecklenburg-Vorpommern, auch journalistische Tätigkeit, beides steht Durchsuchung nicht entgegen ... Spendenbrief erhielt zwar politische Erklärung, war aber nicht zur meinungsbildenden Veröffentlichung übersandt worden ... hierzu passt auch die Veröffentlichung der Danksagung im Anzeigenbereich der Zeitschrift ... kein Zeugnisverweigerungsrecht des Betroffenen ... hatte Spende durch Danksagung bereits selbst aufgedeckt ... kann sich insofern nicht auf Redaktionsgeheimnis berufen ... Maßnahme (Durchsuchung) zur Aufklärung des Sachverhalts erforderlich ... Kürzel NSU hat erstmals in Ausgabe 18 öffentlich Anwendung gefunden ... Anordnung der Maßnahme ist verhältnismäßig ... von Anhörung des Betroffenen war abzusehen, weil der Zweck der Maßnahme sonst gefährdet gewesen wäre. - Gezeichnet von einem Richter am Bundesgerichtshof.

Nun wird Vermerk vom 7. Mai 2012 durch Richter Konstantin Kuchenbauer verlesen. Durchsuchungsbericht Wohnung Petereit.
1. Sachverhalt: Am 28. März 2012 wurde bekannt, dass in "Weißem Wolf" Nr. 18 aus 2002: "Vielen Dank an den NSU. Es hat Früchte getragen". Vorwort soll von Herausgeber unter Pseudonym geschrieben worden sein. Auf Festplatte in Frühlingsstraße konnte Spendenbrief festgestellt werden.
2. Ausgangslage: Durchsuchung durch BGH bei Lebensgefährtin von Petereit angeordnet. Am 3. Mai 2012 vollstreckt. Ziel war Auffinden des Spendenbriefs. Drei-Parteien-Wohnhaus, Wohnung im 1. OG.

Gegen 8.00 Uhr wurde Objekt aufgesucht. In der Wohnung waren neben Frau ... auch zwei Kleinkinder. Sie informierte Petereit telefonisch, er traf 20 Minuten später in Begleitung von weiterem Herrn ein. Petereit antwortete, er würde Brief nicht besitzen, sei kein Messi, würde so alte Sachen nicht aufheben. Petereit übergab drei Aktenordner mit Unterlagen, im dritten Ordner wurde der gesuchte Brief gefunden. Durchsuchung wurde beendet, Wohnung um 9.30 Uhr verlassen. Brief wurde sichergestellt, Petereit war mit Sicherstellung einverstanden.

Richter Lang verliest Anlage zum Durchsuchungsprotokoll. Sichergestellte Gegenstände: Schreiben des "NSU".

(Christoph Arnowski, BR)
Vermerk vom 30. November 2011.
Bundeskriminalamt Meckenheim: Bei der ersten Brandschuttsichtung in der Frühlingsstraße wurde eine brandbeschädigte Festplatte in der Küche gefunden. Wurde ursprünglich fälschlicherweise André E. zugeordnet. Darauf Dokument: NSU-Brief mit längerem Text an mögliche Sympathisanten. Am 12. Februar 2007 erstellt, letzter Zugriff 2008. Elektronische Zeitstempel aber leicht manipulierbar.

Asservatenauswertung (2012, wenige Monate nach Auffliegen des NSU).
Betr. Person Zschäpe Frühlingsstraße.
Notizzettel mit handschriftlichen Notizen mit verschiedenen Abkürzungen.
"Weißer Wolf", der Förderturm.
Zu den Buchstabenkombinationen wurden Internetrecherchen getätigt.
Hilfsorganisation Nationaler Gefangener (HNG, verbotene Organisation).
Deutsches Rechtsbüro.
UN - keine Auswertung möglich.
"Nordische Zeitung".
"Weißer Wolf" - wahrscheinlich bildliche Darstellung weißer Wölfe im Internet.
"Landser".
"Feuersturm Dresden" - erschien 1998 bis 2003.
"Nation Europa" (deutsche Monatshefte) - Monatsschrift rechtsextremistisch ausgerichtet seit den 1950er Jahren bis 2009, wurde durch Monatszeitschrift "Zuerst" ersetzt.
"Fahnenträger" - wahrscheinlich Tonträger.

Fazit (der Ermittler): Verfahrensrelevanz ist derzeit nicht ersichtlich.

(Tim Aßmann, BR)
Erklärung RA Alexander Hoffmann (Nebenklage-Anwalt der Opfer des Bombenanschlags in der Kölner Keupstraße): Die Menschen, die das hier ausgewertet haben, kannten sich nicht besonders gut aus in der rechten Szene aus, will ich mal euphemistisch sagen.

Götzl an Zschäpe und deren Verteidigung: Für Donnerstag Dr. Peschel (medizinischer Sachverständiger in diesem Prozess) geladen. Letzte Woche noch Fragen von Henning Saß (dem psychiatrischen Sachverständigen, der Gutachten über Zschäpe erstellen soll) gestellt zum Thema Alkohol. Äußern Sie sich dazu, könnten sie (die Fragen) kurzfristig beantwortet werden?
Mathias Grasel (Zschäpe-Verteidigung): Noch nicht abschließend besprochen, vor Donnerstag wird es sicher nicht möglich sein.
Pause bis 11.15 Uhr.

(Tim Aßmann, BR)
Weiter um 11.23 Uhr.
Götzl: Ist dann für Donnerstag die Entscheidung gefallen, ob Angaben gemacht werden?
Grasel: Vor der Einvernahme des Sachverständigen am Donnerstag werden wir keine Antworten darauf fertig haben.

RA Jacob Hösl (Verteidigung von Carsten S.): Stellungnahme zu den Zeugen G. und K. (Vernehmungsbeamte von Carsten S.): Widersprechen dem Eindruck, S. habe den Erwartungen der Beamten entsprechen wollen ... gab nie Intervention meinerseits bei den Vernehmungen ... S. wurde ohne jede Einflussnahme von mir befragt.

Hösl: Treten weiterer Vernehmung von Christian K. nicht entgegen, sind aber der Meinung, dass er dazu schon befragt wurde (Schlägerei an Endhaltestelle).

Oberstaatsanwalt Jochen Weingarten (Vertreter Bundesanwaltschaft): Treten den Anträgen der Wohlleben-Verteidigung vom letzten Verhandlungstag nicht entgegen.

Götzl: Heute noch Anträge vorgesehen? - keine.

Verlesung Vermerk: Ermittlungen gegen Andreas Temme (Verfassungsschützer, der beim Yozgat-Mord am Tatort war und der für die Polizei zeitweilig tatverdächtig war) von 2006. Kriminaldirektor H. teilte mit, dass TKÜ (Telefonüberwachung) von Temme kritische Feststellungen hinsichtlich Telefonverhalten von Vorgesetzten von Temme ergeben ... besteht Gefahr, dass Ermittlungsziele dem Beschuldigten bekannt werden ... Frau P. (Vorgesetzte von Temme beim Hessischen Verfassungsschutz) hat dem Beschuldigten mehrfach angekündigt, dass er schnellstmöglich wieder in den Dienst versetzt werde ... sagte Kriminaldirektor H., Temme sei ihr bester Mann, werde dringend wieder gebraucht ... P. riet Temme, sich Anwalt zu nehmen.
P. befragte Temme-Quelle, Polizei wollte dabei sein, P. lehnte ab, Staatsanwaltschaft ließ sie gewähren.

(Christoph Arnowski, BR)
Weitere Verlesung im Zusammenhang mit einem Antrag von RA Doris Dierbach (Nebenklage-Anwältin der Angehörigen des ermordeten Halit Yozgat) vom 106. Hauptverhandlungstag.

Wiesbaden, 21. Juni 2006.
Ziel, Unterstützungshaltung der Verantwortlichen des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen für den Tatverdächtigen zu beenden. Es besteht Verdacht, dass Temme Informationen zurückhält, solange er Rückendeckung der Vorgesetzten beim Landesamt hat.

Mittagspause bis 12.40 Uhr.

(Christoph Arnowski, BR)
12.45 Uhr.
Es geht weiter.
Götzl: Beschluss:
Die Anträge vom 91. Verhandlungstag, dass Kriminaldirektor H. und Kriminaldirektor S. miteinander telefonierten, dass die Gefahr bestehe, dass die Vorgesetzten dem Verdächtigen Temme geheime Informationen zukommen ließen, dass die Vorgesetzte P. Temme geraten habe, sich anwaltlich beraten zu lassen etc., werden abgelehnt, weil sie ohne tatsächliche Bedeutung sind.

(Tim Aßmann, BR)
Auch weitere Anträge zum Fall Yozgat, u. a. Vernehmung von Frau P., werden abgelehnt - ebenso zur Vernehmung eines dpa-Vertreters dazu, wann erstmals darüber berichtet wurde, dass Yozgat-Mord zur Serie gehört.

Auch Anträge vom 106. Verhandlungstag zur Einführung von diversen Zeitungs- und Onlineartikeln ("Hessische Niedersächsische Allgemeine", "Spiegel", "Focus") über den Yozgat-Mord (ebenfalls zur Frage, wann erstmals berichtet wurde, dass der Fall zur Serie gehört) werden abgelehnt, weil für Entscheidung tatsächlich ohne Bedeutung.

(Christoph Arnowski, BR)
Antrag, Kriminalbeamten M. zu laden, zum Beweisantrag, dass Temme am 10. April nur kurz bei ihm war etc., werden abgelehnt, weil für die Entscheidung ohne tatsächliche Bedeutung sind.
Kann abgelehnt werden, da die Beweismittel - selbst wenn sie stimmen -, nur einen möglichen, aber keinen zwingenden Schluss zur Folge haben.
Antragssteller verfolgen das Ziel, dass Angaben von Zeugen Temme unglaubwürdig sind. Das Gericht aber sagt: Die Angaben sind nach vorläufiger Würdigung glaubhaft. (Nochmal Schilderung von Temmes Besuch im Internetcafé, dass er das Opfer nicht gesehen habe).

(Tim Aßmann, BR)
Temme wurde (zählt Termine auf, es waren insgesamt 6) vernommen. Zeuge schilderte nachvollziehbar seine Erinnerungen, räumte unumwunden auch Fehler im eigenen Verhalten ein, die er plausibel und nachvollziehbar einräumte. Habe schlicht Angst davor gehabt, sich als Zeuge zu erkennen zu geben, habe das aus privaten und dienstlichen Gründen vermeiden wollen, seine Angaben werden durch andere Zeugen bestätigt, Zeuge T. führte aus, Temme habe sich kurz im Raum aufgehalten, sei dann wieder gegangen. Auch Ermittlungen bestätigten eine nur kurze Internetnutzung am Computer, Glaubhaftigkeit des Zeugen wird nicht ... durch andere ... erschüttert. Zweifel ergeben sich nicht aus dem Umstand, dass der Zeuge, den oder die Täter nicht gesehen haben will.
Tat wurde nach Überzeugung des Senats begangen, als der Zeuge Temme im Internet eingeloggt war und ... die Tat nicht beobachten konnte. (Senat stützt sich hier auf Aussagen des Zeugen S., der in der Telefonzelle im Internetcafé war. Tat war demnach vor 16.54 Uhr und Temme war bis 17.01 Uhr online.)
Temme von 16.51 Uhr bis 17.01 Uhr eingeloggt. Die fehlende Wahrnehmung des Opfers durch Temme ist nach Überzeugung des Senats plausibel und nachvollziehbar.
Zeugin E. konnte nicht genau sagen, wann Temme ihr sagte, Yozgat-Mord sei Teil der Serie.
Anhaltspunkte dafür, dass der Zeuge Temme Sachverhalte in der Hauptverhandlung lückenhaft geschildert hat, sind nicht vorhanden.
Der Umstand, dass der Zeuge Temme über die Ceska-Serie informiert war, lässt keinen Zusammenhang mit der Aussage des Zeugen in der Hauptverhandlung erkennen.

Götzl: Für morgen geladen: der Zeuge Petereit.
Schluss für heute.

Hinweis

Diese Texte sind eine Auswahl der Mitschriften der Reporter der ARD und des BR während der zentralen Verhandlungstage im sogenannten "NSU-Prozess", eines beispiellosen Verfahrens der deutschen Rechtsgeschichte. Wir dokumentieren diesen "Originalton", weil es in der deutschen Praxis des Strafprozessrechts, selbst bei derartig wichtigen Verfahren, kein offizielles und umfassendes Gerichtsprotokoll gibt. Wir erfüllen damit unsere Informationspflicht, um allen, die keinen der begehrten Sitzplätze im Gerichtssaal erhalten haben, einen - durchaus auch subjektiven - Eindruck der Prozessereignisse zu vermitteln. Die Zusammenfassungen der sogenannten "Saalinfos" unserer Reporter sind redaktionell bearbeitet, zum Teil gekürzt. Es wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben und es kann natürlich auch keine Gewähr für die Richtigkeit jedes einzelnen Wortes gegeben werden. Die Redaktion distanziert sich ausdrücklich von den Inhalten der Aussagen der Prozessteilnehmer.


0