NSU-Prozess


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200 Tage NSU-Prozess Schwer erträgliche Dosis

Der NSU-Prozess, inzwischen 200 Verhandlungstage - und noch kein Ende. Tim Aßmann begleitet die Aufarbeitung der Mordserie für den BR von Beginn an. Seine Analyse zum bisherigen Prozessverlauf, eine fundierte Rück- und Vorschau.

Stand: 23.04.2015 | Archiv

Presse fotografiert den Angeklagten Holger G. im Gerichtssaal im Oberlandesgericht in München
Der Angeklagte Holger G. (l) sitzt am 01.04.2014 im Gerichtssaal im Oberlandesgericht in München (Bayern | Bild: picture-alliance/dpa; Bildbearbeitung: BR

Ohne Worte: die Hauptangeklagte Beate Zschäpe im Gerichtssaal.

Gegen Beate Zschäpe, Hauptangeklagte des Mammutverfahrens, gibt es eine ganze Reihe von Vorwürfen. Schwer belastet erscheint sie nach dem bisherigen Verfahrensverlauf mit Blick auf die Brandstiftung in der Zwickauer Frühlingsstraße, der letzten bekannten Wohnung des NSU-Trios.

Es sprechen viele Beweise dafür, dass Zschäpe dieses Feuer gelegt hat. Und die Bundesanwaltschaft macht daraus versuchten Mord. Denn zum Zeitpunkt des Brandes war auch eine gehunfähige Nachbarin im Haus, was Zschäpe gewusst haben muss. Hier erscheint sie sehr belastet.

Die entscheidende Frage nach der Mittäterschaft

Die zentrale Frage bleibt aber: War Beate Zschäpe Mittäterin bei den Morden? Hat sie mehr als nur Beihilfe geleistet, welche Rolle hat sie gespielt? Hat Zschäpe also quasi abgedrückt, ohne je an einem Tatort dabei gewesen zu sein, weil nur durch ihre Rolle diese Taten überhaupt möglich waren? Hierfür gibt es lediglich Indizien, auf die die Bundesanwaltschaft setzt.

Am Ende des Verfahrens, das war immer schon zu vermuten, wird das Gericht nur auf Basis dieser Indizien entscheiden können. Der bisherige Verfahrensverlauf gibt Anlass zu der Annahme, dass das Gericht bereit ist, über dieser Brücke zu gehen, also der Bundesanwaltschaft zu folgen und Zschäpe eventuell auch wegen Mittäterschaft zu verurteilen. Das alles ist aber noch sehr spekulativ.

Ralf Wohlleben

Der ehemalige NPD-Kader aus Thüringen und enge Vertraute des NSU-Trios ist ebenfalls schwer belastet. Er war, das ist deutlich geworden, der wichtigste Drahtzieher bei der Unterstützung der untergetauchten Neonazis Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt.

Die Beschaffung der Haupttatwaffe, der Ceska-Pistole, mit der neun der zehn Morden des NSU begangen wurden, soll er in Auftrag gegeben haben, davon ist das Gericht überzeugt.

Carsten S.

Kronzeuge der Anklage: Carsten S.

Dass dem so war, sagt Carsten S., der Kronzeuge der Anklage, der ebenfalls auf der Anklagebank sitzt. Er hat Wohlleben schwer belastet. Das Gericht ist in mehreren Beschlüssen zur Haft Wohllebens dieser Argumentation gefolgt, hat sie übernommen.

Carsten S. wiederum ist damit auch der Beihilfe zum Mord angeklagt in neun Fällen. Er soll die Ceska-Pistole beschafft haben, das hat er auch zugegeben. Die spannende Frage am Ende wird natürlich sein, wie sich seine Kooperation bei einem Urteil auswirkt.

Holger G.

Der logistischen Hilfestellung verdächtig: Holger G.

Er gilt der Anklage als NSU-Unterstützer und soll logistische Hilfe geleistet haben, teils auch mittels Dokumenten. Bei Holger G. stellt sich die Frage: War da vielleicht noch mehr, war er deutlich tiefer verstrickt im NSU?

Diese Frage stellt sich, weil Holger G. im Rahmem einer Erklärung zwar Angaben gemacht hat, selbst aber keine Fragen zulässt. Da bleibt der Eindruck zurück, G. verberge etwas.

André E.

Derjenige, gegen den die Vorwürfe am schwächsten sind, ist André E. Der bekennende Neonazi stellt seine Gesinnung auch im Gerichtssal immer wieder zur Schau. Er kann bei einem Schuldspruch dennoch mit der geringsten Strafe rechnen.

Bei ihm geht es zum Beispiel darum, dass Wohnmobile auf seinen Namen angemietet wurden, die dann u.a. zur Begehung von Raubüberfällen benutzt wurden. Das ist seitens der Anklage der schwächste Vorwurf in dem Prozess.

Zwei von drei: die NSU-Mitglieder Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos

Zschäpe ist bisher bei ihrer Linie geblieben, nichts zu sagen. D.h., alle Prozessbeteiligten sind darauf angewiesen, sich ohne ihre Aussagen ein Bild zu machen, auch über sie. Es haben z.B. Zeugen ausgesagt, die mit dem Trio in Urlaub waren, auf Fehmarn.

Sie haben Zschäpe als völlig gleichberechtigten Teil des Trios beschrieben, als eine sehr aktive Person, die mitgeredet hat, die keineswegs untergeordnet war; die auch die gemeinsamen Finanzen im Griff hatte. Das waren alles wichtige Puzzlestücke für das Gericht.

Gleichberechtigtes Mitglied, oder nur Anhängsel?

Auf der anderen Seite haben wir auch die Zeugenaussage einer ehemaligen Nachbarin Zschäpes. Sie schildert das eher so, als ob Zschäpe unter dem Pantoffel Böhnhardts und Mundlos' stand. Es wird also ganz schwer, sich ein Bild davon zu machen, welche Rolle Zschäpe innerhalb dieser Gruppe gespielt hat. Und auch, zu welchem Zeitpunkt sie welche Rolle gespielt hat. 2007 endeten die Morde. Und wir wissen nicht, was vorab diskutiert wurde, was da passiert ist.

Selbstauferlegtes Schweigen zehrt an den Nerven

Man sieht im Gerichtssal, was dieses Verfahren mit Zschäpe gemacht hat. Am Anfang hat die "Bild" getitelt: "Der Teufel hat sich schick gemacht." Da kam Beate Zschäpe im Hosenanzug. Von dieser Frau ist so heute nichts mehr zu sehen. Das ist ein Schatten, ein Gespenst, das in den Gerichtssaal kommt. Es ist zu spüren, dass der Prozess ihr sehr, sehr zusetzt. Inzwischen sitzt sie seit dreieinhalb Jahren in Untersuchungshaft.

Wahrscheinlich setzt Zschäpe auch zu, dass sie sich das Schweigen auferlegt hat. Stellen wir uns das doch nur einmal vor: Ein Mensch, der eigentlich gerne redet - soviel ist über Zschäpe bekannt - wird gezwungen, zwei Jahre lang in einem Prozess zu sitzen, in dem die ganze Zeit über ihn geredet wird. Und er kann nicht mitreden. Vielleicht erleben wir es bis zum Ende des Verfahrens doch noch, dass Beate Zschäpe Angaben macht.

Wenn man auf die Anklagepunkte blickt, hat der Prozess schon einiges leisten können. Er hat den Standpunkt der Bundesanwaltschaft nach meiner Ansicht in weiten Teilen bestätigt. Aber deutlich gemacht hat er bisher eines: Wie viel wir nicht wissen rund um den NSU!

Das ist etwas absolut Ungewöhnliches bei einem Strafverfahren. Es gab da dieses Trio, zwei davon sind tot. Die Dritte, Beate Zschäpe, redet nicht. Und die Anklage basiert in weiten Teilen auf Plausibilitätstheorie. Man hatte Indizien, Beweise, Puzzlestücke. Und man hat daraus etwas gemacht, was man für das Wahrscheinlichste hält. Aber ob es wirklich so war, ist nicht bekannt.

Viele Fragen werden unbeantwortet bleiben

Das Bittere für die Opferangehörigen ist, dass sie auch nach diesem Prozess auf viele Fragen keine Antworten haben werden. Stellvertretend: Was war los in Kassel, als ein Verfassungsschützer zur Tatzeit mit am Tatort war? Und warum wurde die Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn Opfer des NSU? War das alles wirklich reiner Zufall?

Oder: Wer stellte beim Sprengstoffanschlag in der Kölner Probsteigasse die Bombe in den Laden? Die Zeugenbeschreibungen passen nicht auf Böhnhardt und Mundlos. Das macht deutlich, dass auch nach einem Ende des Verfahrens Aufklärungsarbeit rund um den NSU weiter nötig sein wird. Das ist dann nach meiner Ansicht Aufgabe der Politik.

Schwerstarbeit für alle Prozessbeteiligten: Ende 2015/Anfang 2016 könnte sie beendet sein.

Das ist die Frage aller Fragen, sie bekommt man ganz oft gestellt: "Wie lange dauert das noch?" Es stehen jetzt Termine bis Anfang Januar 2016 fest. In diesem Zeitraum könnte es zu Ende gehen, zwischen Ende 2015 und Anfang 2016. Denn das Gericht ist in der Beweisaufnahme doch schon relativ weit.

Die großen Komplexe sind alle angerissen. Mit noch zahlreichen losen Ende sozusagen, die aufgenommen werden müssen. Dann werden zu gegebener Zeit sehr viele Plädoyers erfolgen, das alles dauert.

Zschäpes Gesundheitszustand entscheidend für einen Urteilstermin

Entscheidend wird aber auch sein, wie es weiter geht mit dem Gesundheitszustand Beate Zschäpes. Aktuell kann nur zweimal statt wie üblich dreimal pro Woche verhandelt werden, weil es ihr nicht gut geht. Im Mai möchte das Gericht wieder zum Drei-Tage-Rhythmus zurückkehren. Und dann denke ich, dass der gesteckte Zeitrahmen, bis Ende dieses Jahres oder Anfang 2016 zu einem Urteil zu kommen, realistisch sein kann.

Permanent mit Schweigen und angeblichen Erinnerungslücken konfrontiert: Tim Aßmann

Dieser Prozess ist in vielerlei Hinsicht wahnsinnig ungewöhnlich. Und natürlich bekommt man bei so vielen Verhandlungstagen, bei einer so langen Dauer auch mal einen Lagerkoller, auch als Beobachter. Dann denkt man sich: 'Ach, jetzt muss ich da schon wieder hin." Und dann sitzen wieder schweigende Neonazis vor einem, die das Gericht anlügen und sich angeblich an nichts mehr erinnern wollen. Das ist schwer erträglich.

Aber dadurch, dass wir so viel nicht wissen, ist es auch ein sehr spannendes Verfahren, sehr facettenreich. Und natürlich immer wieder extrem beklemmend. Es ist schlimm zu sehen, wie nahe die Ermittler dran waren und es trotzdem nicht geschafft haben. Denn dann könnten manche Opfer noch leben. Es ist schlimm, wie aus Opferangehörigen teils Verdächtige gemacht wurden, wie Gerüchte die Ermittlungsarbeit bestimmt haben.

Eine ungewöhnliche Erfahrung

Das Verfahren ist natürlich auch auf journalistischer Ebene ein ganz ungewöhnliches. Das Interesse ist viel größer als bei allen anderen Prozessen, die ich schon begleitet habe - und das waren einige. Wir schreiben Protokolle, was das Gericht ja nicht macht. D.h., die Journalisten sind es, die für die Nachwelt festhalten, was da Historisches passiert. Und historisch, das ist dieser Prozess ganz sicher.

Meine BR-Kollegen und ich schreiben unsere Erinnerungen und Wahrnehmungen auch in einem Gerichtsreportertagebuch auf. Und berichten in allen möglichen Hörfunk- und Fernsehprogrammen sowie auf BR.de über das Verfahren. Das Interesse ist natürlich nicht mehr so groß wie am Anfang, aber dennoch ungebrochen. Das ist sicher eine Erfahrung, die man in seiner beruflichen Laufbahn nicht zweimal macht.


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