Rechtsextreme Gewalttaten Licht in die Dunkelziffern

Ihnen wurde Gewalt angetan oder sie wurden ermordet, weil sie Migranten, Linke, Muslime, Juden, Behinderte, Obdachlose oder Homosexuelle waren. Wie viele Verbrechen gehen wirklich auf das Konto von Neonazis und Rassisten? Seit dem Aufklärungsdebakel um die Terrorzelle NSU wird genauer hingeschaut. Offenbar ist die Zahl der Delikte aus dem rechten Milieu deutlich höher als bisher ermittelt oder zugegeben.
Von Ernst Eisenbichler und Jonas Miller
Das Bundeskriminalamt (BKA) überprüfte nach dem Auffliegen des NSU im Auftrag der Bundesregierung unaufgeklärte Gewaltfälle, die sich zwischen 1990 und 2011 ereigneten. Diese hatten mutmaßlich einen rassistischen, ausländerfeindlichen oder rechtsextremen Hintergrund. Besonders viele Fälle stammten aus Baden-Württemberg, das mehr als 200 ungeklärte Gewalt- und Tötungsdelikte einreichte. In Bayern waren es nach Angaben von Innenminister Joachim Herrmann (CSU) 45. Nach der Überprüfung kam das BKA zu dem Ergebnis, dass 15 Morde auf einen rechtsextremen Hintergrund schließen ließen.
Straße in Berlin, umbenannt nach Neonazi-Opfer: Der linke Silvio Meier wurde 1992 auf dem U-Bahnhof Samariterstraße von Rechtsextremen getötet.
Bislang verzeichnet die offizielle Polizeistatistik für Bayern neben den fünf NSU-Morden in Bayern - drei in Nürnberg und zwei in München - einen einzigen Toten durch rechte Gewalt seit der Wiedervereinigung: Carlos Fernando aus Mosambik, der am 15. August 1999 im oberbayerischen Kolbermoor von einem Rassisten erschlagen wurde. Welche Fälle nun konkret in Bayern geprüft werden, wollte das Landeskriminalamt (LKA) nicht mitteilen: "Wir machen ganz bewusst keine Angaben", sagte LKA-Sprecher Ludwig Waldinger. Doch auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion teilte die Bundesregierung mit, dass in Bayern einige Fälle erneut geprüft werden, bei denen zivilgesellschaftliche Organisationen und Fachjournalisten schon seit Jahren darauf hinweisen, dass es sich um rechte Gewalttaten handeln muss.
Tötungsdelikte in Bayern - offiziell nicht in Rechter-Gewalt-Statistik
NSU-Sachverständige ermitteln
Nach dem Auffliegen der Zwickauer Terrorzelle beschloss die Innenministerkonferenz im Mai 2012, alle ungeklärten - auch versuchten - Tötungsdelikte gemäß §§ 211, 212 StGB zwischen 1990 und 2011 noch einmal zu durchleuchten. Das BKA ließ daraufhin rund 3.300 Fälle auf mögliche rechtsextremistische Motive untersuchen und schickte dazu einen Fragenkatalog an die zuständigen Mordkommissionen in den Bundesländern. Mehr als 300 Fälle betrafen Bayern. Von diesen meldete 2013 das bayerische LKA 45 dem BKA zurück. Laut LKA werden die Fälle nun von Experten untersucht, die auch in Sachen NSU ermitteln - in einem Gemeinsamen Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus, das nach dem Bekanntwerden der NSU-Terrorgruppe gegründet wurde.
Kriterien auf dem Prüfstand
Als Richtschnur für die Überprüfung wurde gemeinsam mit polizeiinternen und externen Wissenschaftlern ein neuer, weitgefasster Indikatoren-Katalog entwickelt. Dieser besteht aus bestimmten Opferkriterien wie sexuelle Orientierung, Ethnie, Religion oder Obdachlosigkeit. Außerdem reichen nun einzelne dieser Kriterien aus, um die Tat als politisch motiviert einzustufen, bislang mussten es mehrere gleichzeitig sein.
Von offiziellen und nichtoffiziellen Statistiken
Die Wochenzeitung "Die Zeit" hatte schon vor einigen Jahren intensiv recherchiert - und kam auf wesentlich mehr Todesopfer rechter Gewalt als in den offiziellen Statistiken verzeichnet war. Auch das Projekt "Mut gegen rechte Gewalt" des Magazins "stern" zählte mehr Opfer als die Bundesregierung.Woher kam diese erstaunliche Differenz? Aus diversen Gründen übersehen Ermittler beim einen oder anderen Delikt den rechtsextremen Hintergrund, im Protokoll steht dann etwa "gefährliche Körperverletzung mit Todesfolge" - und die Statistiken erscheinen, aus gesellschaftspolitischer Sicht, harmloser.