Nördlinger Zeitzeugin Das außergewöhnliche Leben von Anna Reinhardt
„Wir sind stolz, Zigeuner zu sein..." heißt ein außergewöhnliches Buch über eine außergewöhnliche Lebensgeschichte. "Heldin" ist die Nördlingerin Anna Reinhardt.
Es ist zutiefst erschütternd, bedrückend, aber auch faszinierend, wenn man liest, was diese Frau und ihre Familie erlebt haben - wie sie es mit einem eisernen Lebenswillen geschafft haben, zu überleben, und heute in Nördlingen integriert, akzeptiert und sesshaft zu werden.
Über allem der Glaube
Anna Reinhardt trägt schwarz - ihr Bruder ist vor einigen Wochen gestorben. Jetzt ist sie die letzte aus ihrer Familie, die erzählen kann von dem, was alles passiert ist. Ihre grauen Haare hat sie hochgesteckt, trägt goldene Ohrringe. Hinter ihr, in ihrem Wohnzimmmer an der Wand, hängt eine große, holzgeschnitzte bunt bemalte Marienstatue: Glaube.
"Mein Vater war sehr gläubig, also wir alle, die ganzen Sinti sind gläubig, mein Vater hat immer gebetet und meine Mutter, dass wir gesund wieder rauskommen."
Anna Reinhardt
Massenerschießungen durch die SS
Das ist ihnen gelungen - auch wenn das fast nicht zu glauben ist. Anna Reinhardt war wenige Wochen alt, da wurde sie mit ihren Eltern und ihren vier Geschwistern nach Polen deportiert, sind dort ins Lager gekommen - ihre ersten fünf Lebensjahre lang hat sie dort Schreckliches erlebt.
"Da sind dann die Autos immer gekommen, die Planwagen-Autos, und da waren die Gefangenen oben, die haben ihre Gräber dann selber schaufeln müssen, und wenn die Gräber genug tief waren, dann mussten sie sich rückwärts hinstellen, dann haben die SS geschossen, dann sind sie reingefallen, da sind dann noch mehr reingekommen, bis es übervoll war. ... Und wenn die Schießerei kam, wusste meine Mutter das schon, dann hat sie uns drei Kleinen genommen und die Köpfe an sich gedrückt, und hat uns irgendwas erzählt, damit wir das nicht so mitkriegen, die Schießerei, das habe ich manchmal noch in den Ohren."
Anna Reinhardt
"Wir hätten vergast werden sollen"
Schutz bei der Mutter, bei den Eltern, das war das einzige, was die Reinhardt-Kinder damals hatten. Spielzeug gab es keines, zu essen. Getrocknete Kartoffelschalen. Im Lager gab es keine Milch für die Kinder. Der Vater und die größeren Geschwister mussten Zwangsarbeit leisten, im Straßenbau zum Beispiel. Bis es dann einmal hieß:
"Wir kommen zum Baden. Wir waren vor dem Ofen wo wir vergast werden hätten sollen, da hieß es, wir sollen duschen - da ist lauter Gas rausgekommen, das hat so gestunken dort- hat einer gesagt, ihr müsst wieder rauf!"
Anna Reinhardt
Denn der Ofen war schon überfüllt. Splitterfasernackt waren sie da schon - zusammengepfercht, mit vielen Anderen, auf einem Wagen. Furchtbar war das, Nacktheit ist für die Sinti etwas ganz Schlimmes.
"Und dann kam der SS-Mann, und hat zu meinem Vater gesagt das war eine Gottesgabe, hat er gesagt: Franz, bist das du? Und mein Vater hat auch zu ihm den Namen gesagt, Franz in der Kurve da vorne hüpfst runter und haust ab in die Wälder, da vorne werden alle vernichtet, das haben wir gemacht."
Anna Reinhardt
Überleben, einfach nur Überleben
Dann waren sie im Wald - ohne Essen, ohne Kleidung. Ihr Vater riss Tannenwedel von den Bäumen und machte ein Feuer. Sie schliefen ohne Decke in der noch warmen Asche, alle eng beieinander. Viele ihrer Verwandten wurden von der SS ermordet - Anna Reinhardts Familie aber hat es geschafft. Sie haben sich durchgeschlagen, der Vater mit seiner Geige, irgendwie hat er es geschafft, die Familie durchzubringen. Bis sie nach dem Krieg dann versucht haben, in Süddeutschland wieder Fuß zu fassen, zunächst in Kornwestheim bei Pforzheim.
"Als ich 12,13 war, hat mein Vater ein Kino gekauft, aber dann in der Früh am nächsten Tag, hat die Gemeinde gesagt, nein, hier kommen keine Zigeuner rein."
Anna Reinhardt
Fairplay mit Gerd Müller
In Nördlingen dann gab es ein Barackenlager, für die Sinti - hier haben die Reinhardts gewohnt, bis sie sich ein Haus leisten konnten. So wussten sie immer, was Armut bedeutet. Und sie ehrten die, die selber arm waren. Zum Beispiel den Fußballer Gerd Müller, der oft bei ihren Brüdern zu Besuch war und mit ihnen Fußball spielte. Arme zu ehren gehört für eine Sintiza zu Leben dazu, sagt Anna Reinhardt, genau wie die Musik, die Sprache - und ihre Geschichte. Es fällt ihr schwer, die zu erzählen, aber: es war an der Zeit.
"Mein Bruder und mein anderer Bruder, die spielten mit dem Gerd Müller, der war bei uns daheim, der Gerd. Wenn der Gerd Müller Sinti gesehen hat und wenn er in München war, hat er uns immer wieder besucht. Wissen Sie, der war arm - und wenn arme Menschen zu Zigeuner kommen, die ehren wir. ...
Meine Schwester hat angefangen, ein Buch zu schreiben, und wo sie gestorben ist, ist das alles weggekommen, und dann nach langer Zeit jetzt vor eineinhalb Jahren hab ich gedacht, nachts, meine Schwester hätte jetzt ein Buch geschrieben, mach ich mal was."
Anna Reinhardt
Infos zum Buch:
Autorin des Buches über das Leben und Leiden einer Sinti-Familie ist die Journalistin Angela Bachmair. Immer wieder hat sie sich mit der Sintiza Anna Reinhardt in Nördlingen getroffen, um deren bewegtes Leben aufzuarbeiten – dazu hat sie recherchiert, über das Leben der Sinti heute und die Geschichte dieser Volksgruppe.
Titel: "Wir sind stolz, Zigeuner zu sein – Vom Leben und Leiden einer Sinti-Familie"
ISBN 978-3—89639-961-8
Das Buch kostet kostet 9,80 Euro und ist erschienen im Wißner-Verlag, Augsburg.