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Chronologie Antisemitismus: Von der Idee zum Völkermord

"Judenfrage", "Blutschande" und "Endlösung": Viele Unworte der Nazis wurden wie die dazugehörigen Ideen schon vor Hitlers Geburt formuliert. Unser Zeitstrahl verfolgt die Entwicklung des "modernen Antisemitismus" in Deutschland bis zum Holocaust.

Von: Michael Kubitza und Ulrich Trebbin

Stand: 14.09.2015

  • 1861
    Denkmal König Max I. Joseph von Bayern vor dem Münchner Nationaltheater | Bild: mauritius-images

    1861

    Die Vorgeschichte in Bayern

    Das Königreich Bayern, wo ein Fünftel der deutschen Juden vorwiegend in den ländlichen Regionen zu Hause ist, zählt in Sachen Judenemanzipation lange Zeit zu den rückständigen Gebieten auf deutschem Boden. Das Judenedikt von 1813 sieht zahlreiche Niederlassungs-, Heirats- und Berufsbeschränkungen vor. Erst 1861 bessert sich die Rechtsstellung der Juden spürbar - was Neider auf den Plan ruft. Ab 1871 gilt deutsches Reichsrecht.

  • 1878
    Vertreter des Antisemitismus | Bild: picture-alliance/dpa

    Adolf Stoecker

    1878

    Judenfeindschaft im Parlament

    Christlich-sozial: Im Kaiserreich hält dieses Begriffspaar ein Preuße besetzt. Der protestantische Hofprediger Adolf Stoecker ist antiliberal, antisozialistisch, antikapitalistisch - und der erste einflussreiche Antisemit der deutschen Parlamentsgeschichte. Politische Gegner aller Couleur sind für Stoecker "verjudet". Zu Stoeckers Unterstützern zählt der Historiker Heinrich von Treitschke. Er formuliert den Satz "Die Juden sind unser Unglück" - später Untertitel des NS-Hetzblatts "Der Stürmer".

  • 1880
    Vertreter des Antisemitismus | Bild: picture-alliance/dpa

    Karl Eugen Dühring

    1880

    Judenfeindschaft als "Rassenfrage"

    Um 1880 erscheinen mehrere Schriften, die den "modernen", rassistisch argumentierenden Antisemitismus begründen. Zuvor ist Judenfeindschaft meist unreflektierte Antipathie oder argumentiert religiös - so August Rohling, der in "Der Talmudjude" 1871 alte Ritualmordlegenden aufgreift. 1879 bezeichnet Wilhelm Marr in "Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum" die Juden als "Rasse" von "Parasiten", die Deutschland ausbeute. 1881 veröffentlicht Karl Eugen Dühring "Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage. Mit einer weltgeschichtlichen Antwort".

  • 1889

    1889

    Die "Endlösung"

    Zwei antisemitische Parteien gründen sich: Die Deutschsoziale Partei und die Antisemitische Volkspartei fordern, die Emanzipation der Juden rückgängig zu machen. 1893 erringen sie zusammen 18 Mandate im Reichstag, vereinigen sich 1894 zur Deutschsozialen Reformpartei und sprechen zum ersten Mal von der "Endlösung der Judenfrage“ durch "Absonderung" und notfalls "völlige Vernichtung". Im bayerischen Parlament spielt der Antisemitismus keine Rolle. Seine Ideen aber finden in Parteien und Organisationen wie dem Zentrum, dem Bayerischen Bauernbund und dem Handlungsgehilfenverband Widerhall.

  • 1919
    Mahnmal für Kurt Eisner | Bild: picture-alliance/dpa

    Mahnmal für Kurt Eisner, den Vater des "Freistaats Bayern".

    1919

    Antisemitismus als Mordmotiv

    Der Niederschlagung der Räterepubliken nach dem 1. Weltkrieg fallen viele Juden zum Opfer. Der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner wird ebenso ermordet wie die Sozialistin Rosa Luxemburg und der Pazifist Kurt Landauer. 1922 wird der liberale Reichsaußenminister Walter Rathenau erschossen. Die Rechtsradikalen begründen ihre Attentate mit der "Dolchstoßlüge", nach der die jüdische Minderheit die nationale Demütigung des verlorenen Krieges zu verantworten habe. Juden und Sozialdemokraten seien dem "im Felde unbesiegten Heer" heimtückisch in den Rücken gefallen.

  • 1920

    1920

    Weltverschwörungstheorien

    Das erste Mal tauchen die "Protokolle der Weisen von Zion“ 1903 in zaristischen Kreisen in Russland auf. 1920 erscheint das Machwerk auf deutsch. Das antisemitische Pamphlet inszeniert eine angebliche Verschwörung des Weltjudentums. Schon 1921 entlarvt die Londoner Times die "Protokolle" als Fälschung - was Weltverschwörungsideologen bis heute nicht anficht.

  • 1925

    1925

    "Mein Kampf" erscheint

    1925/26 erscheint die zweibändige Programmschrift "Mein Kampf". Adolf Hitler kündigt darin Rache an den jüdischen "Novemberverbrechen“ an, will die Menschheit vom "Weltjudentum" befreien. Wer die als Programm gedachte Tirade liest - was vor 1933 nur wenige tun - erfährt auch, dass Hitler Massenmorde mit Giftgas als legitime Methode betrachtet.

  • 1933
    1933 | Bild: picture-alliance/dpa

    April 1933: NS-Terror in München

    1933

    Die Machtergreifung

    Am 1. April fordert das neue Regime die Bevölkerung auf, alle jüdischen Geschäfte, Warenhäuser, Banken, Arztpraxen, Rechtsanwalts- und Notarkanzleien zu boykottieren. Auf Schildern und Plakaten steht zu lesen: "Deutsche! Wehrt euch! Kauft nicht bei Juden!“ oder "Die Juden sind unser Unglück!" Wachposten von SA-Männer oder Hitlerjungen beziehen vor den Geschäften Posten. Die Deutschen folgen dem Aufruf nur zögerlich. Viele kaufen einige Tage später umso mehr ein.

  • 1935
    Julius Streicher verteidigt während einer Rede die Nürnberger Gesetze im Sportpalast in Berlin, im Hintergrund das Transparent: 'Volksgenosse kann nur sein, wer gleichen Blutes ist'. | Bild: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo

    Görings Zuhörer bei der Verkündung der "Nürnberger Gesetze"

    1935

    Die Ausgrenzung wird Gesetz

    Im Sommer werden neben den Ortsschildern judenfeindliche Parolen angebracht. In Berchtesgaden: "Juden sind in diesem Ort nicht erwünscht". Rottach-Egern: "Juden betreten den Ort auf eigene Gefahr". Geslau bei Rothenburg ob der Tauber: "Die Juden sind uns so nützlich wie Mäuse dem Getreideboden und die Motten den Kleidern. Deshalb hier nicht erwünscht." Auf dem Reichsparteitag im September werden die Nürnberger Gesetze verkündet (siehe Link unten). Zum Jahresende werden jüdische Lehrer, Professoren und Wehrmachtsangehörige in den Ruhestand geschickt.

  • 1938
    Die Synagoge in der Münchener Herzog-Rudolf-Straße nach der Kristallnacht | Bild: Bundesarchiv, Bild 146-1970-041-46 / CC-BY-SA

    Die brennende Münchner Synagoge

    1938

    Der 9. November 1938

    In der "Reichskristallnacht" zünden SA-Trupps in "Räuberzivil"
    über 1400 Synagogen und Versammlungsräume an. Die Feuerwehr passt auf, dass die Brände nicht auf Nachbarhäuser übergreifen. Tausende Geschäfte, Wohnungen und Friedhöfe werden zerstört, 400 Menschen ermordet oder in den Selbstmord getrieben. Am 10. November werden 30.000 Juden in Konzentrationslagern interniert. Wer überlebt, muss sich bei der Entlassung verpflichten, nicht darüber zu berichten und baldmöglichst auszuwandern. Die Hälfte aller noch hier lebenden jüdischen Bayern flieht in den kommenden Monaten ins Ausland.

  • 1939
    Aus Würzburg deportierte Jüdin | Bild: picture-alliance/dpa

    Deportation einer Würzburger Jüdin

    1939

    Vorbereitungen zur Deportation

    Die 10. Verordnung zum "Reichsbürgergesetz" bereitet die Deportation der deutschen Juden vor: Die "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland" wird dem Reichssicherheitshauptamt unterstellt, alle Juden sind zwangsweise Mitglied. Sie soll die Auswanderung der Juden fördern und muss schließlich die Deportationen in die Vernichtungslager organisieren.

  • 1940
    Davidstern | Bild: colourbox.com

    1940

    Der "Judenstern" als Stigma

    Im besetzten Polen müssen Juden den "gelben Stern" schon seit September 1939 tragen. Ein knappes Jahr später wird das Zeichen der Ausgrenzung auch in Deutschland eingeführt. Am 31. Juli beauftragt Reichsmarschall Hermann Göring den Chef des Reichssicherheitshauptamtes, Reinhard Heydrich, mit der "Endlösung der Judenfrage", also dem Völkermord an den europäischen Juden. Die 11. Verordnung zum "Reichsbürgergesetz" bestimmt, dass das Juden, die auswandern, Staatsbürgerschaft und Vermögen verlieren - das gilt auch, wenn sie in die Vernichtungslager deportiert werden.

  • 1942
    Villa der Wannseekonferenz | Bild: picture-alliance/dpa

    Villa am Wannsee: Der Schauplatz der Mordplanung ist heute ein Museum.

    1942

    Die "Wannsee-Konferenz"

    Bei der "Wannseekonferenz" am 20. Januar organisieren hochrangige NS-Funktionäre unter SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich die Deportation und Vernichtung der europäischen Juden. Bis zur Niederlage des NS-Staates fordert der Holocaust zwischen 5,6 und 6,3 Millionen Opfer. Von den 42.000 bayerischen Juden des Jahres 1933 leben 1945 noch einige Hundert im Land.


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