Helmut Schmidt Hanseatischer Grandseigneur
Ob Sturmflut, Ölkrise oder "Deutscher Herbst" - mit hanseatischer Nüchternheit musste Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt einige Krisen managen. Heute gilt er als Welterklärer und deutsches Gewissen.
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1918
Schmidt als kleiner Junge (1925)
1918
Ein echter Hamburger Junge
Helmut Schmidt kommt einen Tag vor Heiligabend des Jahres 1918 im Hamburger Arbeiterstadtteil Barmbek zur Welt. Sein unehelich geborener Vater Gustav ist jüdischer Herkunft und wird von der Familie Schmidt adoptiert. Helmut Schmidt und sein jüngerer Bruder Wolfgang besuchen die Lichtwark-Oberschule in Winterhude.
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1940
Schmidt 1940 als Leutnant der Luftwaffe
1940
Krieg statt Studium
Nach dem Abitur möchte Schmidt Städtebauer werden, wird aber als Wehrpflichtiger für den Zweiten Weltkrieg eingezogen. Kurze Zeit ist der Ex-Wehrmachtsoffizier in britischer Gefangenschaft, bevor er sich 1945 zurück nach Hamburg durchschlägt. Dort studiert er Staatswissenschaften und Volkswirtschaft und beendet das Studium 1949 als Diplom-Volkswirt.
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1952
Helmut Schmidt 1953
1952
Studium, Partei, Behörde
1946 tritt Schmidt in die SPD ein und ist 1947/48 auch Vorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS). Der Ansporn für sein politisches Engagement liegt nach eigener Aussage in den Kriegserlebnissen begründet. Auf diese Weise will er seinen Beitrag dazu leisten, dass das, was er erlebt hatte, sich in Deutschland niemals wiederholt. Nach dem Studium arbeitet Schmidt unter dem späteren SPD-Wirtschaftsminister Karl Schiller in der Hamburger Behörde für Wirtschaft und Verkehr und bringt es innerhalb von drei Jahren zum Verkehrsdezernenten.
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1953
Schmidt spricht 1958 im Bundestag u.a. zur Atombewaffnung der Bundeswehr.
1953
Anfänge in Bonn
1953 wird Schmidt in den Bundestag gewählt, 1957/58 steigt er in den Fraktions- bzw. Parteivorstand auf. Schon damals fällt er durch sein rhetorisches Talent auf, schnell erwirbt er sich den Spitznamen "Schmidt Schnauze". Als Militärexperte avanciert er innerhalb der Opposition zum Gegenspieler von Verteidigungsminister Franz Josef Strauß und kämpft gegen die Aufrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen.
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1962
Einwohner aus Hamburg-Wilhelmsburg werden aus ihren Häusern gerettet.
1962
Der Sturmflut-Senator
Nach seiner Ernennung zum Hamburger Innensernator legt Schmidt 1962 sein Bundestagsmandat nieder. Im selben Jahr hat er die erste große Bewährungsprobe zu bestehen: die große Sturmflut, bei der mehr als 300 Menschen sterben. Ohne sich um Dienstwege und Vorschriften zu kümmern, holt Schmidt die Bundeswehr zur Hilfe, um der Katastrophe so gut wie möglich Herr zu werden. "Ich habe das Grundgesetz nicht angeguckt in jenen Tagen", sagt er später. Durch sein pragmatisches Krisenmanagement verschafft er sich über Hamburg hinaus Anerkennung und Respekt und empfiehlt sich für höhere Aufgaben.
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1967
Schmidt (links) und Barzel im Bundestag
1967
SPD-Fraktionsführer
1965 kehrt Schmidt als Abgeordneter nach Bonn zurück. Er ist zunächst stellvertretender Fraktionschef und löst 1967 Fritz Erler an der Spitze der Fraktion ab. In der Großen Koalition aus Union und SPD, die seit 1966 regiert, wird er somit zum politischen Partner von Unionsfraktionschef Rainer Barzel. Daraus entwickelt sich auch eine private Freundschaft über die Parteigrenze hinweg.
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1969
1972 besucht Schmidt eine offenbar ermüdende Truppenübung.
1969
Herr der Truppe
Unter dem ersten sozialdemokratischen Kanzler Willy Brandt, der ab 1969 eine sozialliberale Regierung anführt, rückt Schmidt als Verteidigungsminister ins Kabinett auf. Während seiner Amtszeit unterzeichnet die Bundesregierung einen Atomwaffensperrvertrag, die Wehrpflicht wird auf 15 Monate reduziert. Gleichzeitig erklärt Schmidt das Gleichgewicht aller Streitkräfte in Europa und die fortdauernde Anwesenheit des US-Militärs als unabdingbar für eine Entspannungspolitik.
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1972
Brandt (l) und Schmidt (r) am Rande des SPD-Bundesparteitags im Mai 1970 in Saarbrücken.
1972
Herr der Finanzen
Nach dem Rücktritt von Wirtschafts- und Finanzminister Karl Schiller übernimmt Schmidt dessen Amt 1972 zunächst kommissarisch. Nach Brandts Wahltriumph 1972 wechselt Schmidt offiziell auf den Finanzminister-Sessel und ist nun die Nummer zwei hinter dem Bundeskanzler. Doch Brandts Art ist seine nicht. "Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen", sagt Schmidt später einmal in Anspielung auf den SPD-Chef. Der Hanseat Schmidt mag es lieber nüchterner.
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1974
Schmidt wird am 16.5.1974 im Bundestag vereidigt.
1974
Brandt-Nachfolger im Kanzleramt
Als Brandts Referent Günter Guillaume als DDR-Spion enttarnt wird und Brandt deshalb zurücktritt, läuft alles auf eine Kanzlerschaft Schmidts hinaus. Seine erste Amtszeit steht im Zeichen von Ölkrise und Rezession. Dennoch erwirbt sich der studierte Ökonom allgemein Anerkennung für seine Stabilitätspolitik in wirtschaftlich schwierigen Zeiten. In seine erste Amtszeit fällt zudem die Unterzeichnung der Verträge über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 1975. Bei dieser Gelegenheit trifft er erstmals DDR-Staatschef Erich Honecker.
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1975
Loki Schmidt im Wohnzimmer des Kanzlerbungalows
1975
Familie Schmidt privat
Schmidt und seine Ehefrau Hannelore, genannt Loki, sind seit 1942 verheiratet. Das erste Kind stirbt schwer behindert noch vor seinem ersten Geburtstag. 1947 kommt Tochter Susanne zur Welt, sie wird Wirtschaftsjournalistin. Loki Schmidt ist Lehrerin und begeisterte Naturliebhaberin. Ihre Stiftung kürt von 1980 an jährlich die "Blume des Jahres". Loki Schmidt stirbt im Herbst 2010. Helmut Schmidt findet Entspannung beim Schach, Klavierspielen und Segeln an seinem Ferienhaus am Brahmsee. Ansonsten lebt das Ehepaar in einem bescheidenen Haus in Hamburg-Langenhorn.
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1976
Wahlplakate zur Bundestagswahl 1976
1976
Knappe Wiederwahl
Bei der Bundestagswahl kann sich Schmidt nur mit knapper Mehrheit als Kanzler behaupten. Die CDU/CSU wird mit Spitzenkandidat Helmut Kohl stärkste Fraktion, doch mit der FDP als Koalitionspartner kann Schmidt weiterregieren. Für innenpolitische Spannungen sorgen bald darauf die Löcher in der Rentenkasse. Zudem wird Schmidts zweite Amtsperiode überschattet vom sogenannten "Deutschen Herbst".
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1977
Die RAF präsentiert ein Foto mit ihrem Entführungsopfer Schleyer.
1977
Der "Deutsche Herbst"
Der Terror der "Rote Armee Fraktion" RAF erreicht im Herbst 1977 seinen Höhepunkt mit der Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer und der Entführung der Lufthansa-Maschine "Landshut" nach Mogadischu. Kurz darauf nehmen sich die RAF-Anführer Baader, Ensslin und Raspe im Gefängnis Stuttgart-Stammheim das Leben. Für das harte, unnachgiebige Krisenmanagement der Bundesregierung, das Zugeständnisse oder Austausch-Aktionen radikal ausschließt, erntet Schmidt auch Kritik - insbesondere wegen des dadurch angeblich mitverschuldeten Tod Schleyers.
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1980
Helmut Schmidt 1980 bei einer Wahlkampfveranstaltung
1980
Wiederwahl und Gegenwind
Auch wenn Schmidt 1980 erneut die Bundestagswahlen gewinnt, schwindet innerhalb der SPD die Zustimmung zu seinem Kurs bereits stark. Auseinandersetzungen gibt es vor allem um die Wirtschafts- und Sicherheitspolitik. Zudem steigen Inflation und Arbeitslosigkeit, ebenso die Schulden. Die Debatte über ein Sparpaket und ein Beschäftigungsprogramm stellen die SPD/FDP-Koalition vor eine Zerreißprobe. Im Streit mit den Nachrüstungsgegnern in der SPD droht Schmidt 1981 mit Rücktritt. Im Februar 1982 stellt Schmidt im Bundestag sogar die Vertrauensfrage - und gewinnt sie (noch) klar.
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1981
Schmidt im Oktober 1981 im Koblenzer Bundeswehrkrankenhaus
1981
Regieren vom Krankenbett aus
Schmidt ist zeitlebens passionierter Kettenraucher und schnupft Tabak. Auch bei TV-Interviews steckt er sich gerne eine Zigarette nach der anderen an. Dies hindert ihn zwar nicht daran, über 95 Jahre alt zu werden - allerdings nicht ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen. 1981 bekommt er einen Herzschrittmacher eingesetzt. Später, im hohen Alter, ist er stark schwerhörig.
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1982
Helmut Schmidt gratuliert seinem Nachfolger Helmut Kohl am 1.10.1982 zu dessen Wahl
1982
Sturz per Misstrauensvotum
Trotz der gewonnenen Vertrauensabstimmung Anfang 1982 lassen sich die Risse in der Koalition nicht mehr kitten. Die Haushaltsberatungen führen im September 1982 endgültig zum Bruch. Bei einer erneuten Vertrauensabstimmung im Bundestag verweigern die Liberalen Schmidt die Gefolgschaft und stimmen für Unionsfraktionschef Kohl als neuen Kanzler. Schmidt ist der bislang erste und einzige Bundeskanzler, der durch ein konstruktives Misstrauensvotum gestürzt wird.
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1983
Schmidt als frisch gebackener Mitherausgeber der "Zeit"
1983
Zeit für "Die Zeit"
Auch nach seinem Ausscheiden aus dem Amt meldet sich Schmidt mit pointierten, kontroversen Kommentaren zum aktuellen Geschehen zu Wort - und verschont auch die SPD nicht von teils heftiger Kritik. 1983 wird er Mitherausgeber der "Zeit", 1987 scheidet er als Abgeordneter aus dem Bundestag aus. Von da an konzentriert er sich mit Gastvorträgen und Buchprojekten auf seine Rolle als Elder Statesman und engagiert sich im Inter Action Council, einem losen Zusammenschluss ehemaliger Staats- und Regierungschefs.
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2006
Schmidt und Giscard d'Estaing bei der Preisverleihung
2006
Internationale Freunde
Im Ausland ist Schmidt vor allem wegen seines wirtschaftlichen Sachverstands hoch angesehen. Während seiner Amtszeit wird der französische Präsident Valery Giscard d'Estaing ein enger Freund. Mit ihm unternimmt Schmidt wichtige Schritte zur Verbesserung der deutsch-französischen Beziehungen, zur europäischen Integration und zur Einführung eines europäischen Währungssystems. 2006 bekommen beide für ihr Engagement um die deutsch-französische Freundschaft den Adenauer-de-Gaulle-Preis. Kissinger besucht Schmidt noch bis ins hohe Alter daheim in Hamburg.
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2008
Zwei, die zusammengehören: der bekennende Raucher Schmidt mit Zigarette
2008
Der Grandseigneur
Mit zunehmendem Alter - und zunehmendem Abstand zu seiner Regierungszeit - ist Helmut Schmidt als Welt-Erklärer und Spezialist für die großen Fragen der Zeit gefragter denn je. Mehr als 30 renommierte Universitäten haben ihn zum Ehrendoktor ernannt. Rund um seinen 90. Geburtstag am 23. Dezember 2008 gibt es ein regelrechtes Schmidt-Revival, mehrere Bücher von oder über ihn stehen in den Bestsellerlisten. Nicht wenige wüschen sich, die SPD und Deutschland möge noch einmal so einen Politiker haben wie ihn.