Wannseekonferenz 1942 Die Organisation des Völkermords
Auf Seite 6 des Konferenzprotokolls eine Tabelle: Elf Millionen "Glaubensjuden" hat die NS-Führung in Europa gezählt. Was den meisten von ihnen widerfahren soll, wird am 20. Januar 1942 noch vorm Frühstück geregelt. Der Völkermord als Verwaltungsakt: Bis heute ringen die Historiker darum, den Wahnsinn vom Wannsee richtig einzuordnen.
Die Gedenkveranstaltung in Berlin
Bei der Gedenkveranstaltung 75 Jahre nach der Wannsee-Konferenz hallt der Angriff des AfD-Politikers Björn Höcke auf die deutsche Erinnerungskultur irgendwie nach. Kulturstaatsministerin Monika Grütters warnte, ohne Höcke namentlich zu erwähnen, eindringlich davor "dass neue politische Kräfte in unserem Land wie vorgestern wieder in Dresden unsere Erinnerungskultur für parteipolitische Zwecke missbrauchen.“ Das Treffen am Wannsee 1942 "offenbare die auf gnadenlose Effizienz gerichtete Tötungsmaschinerie der Nationalsozialisten“ und lasse erahnen, wie vieler Rädchen im Getriebe es bedurfte, um die Maschinerie am Laufen zu halten.
Auch Bundestagspräsident Lammert erklärt vor rund 200 Menschen in der Gedenkstätte am Berliner Wannsee: „Erinnern ist zentrale Aufgabe staatlicher Verantwortung.“ Deshalb seien Gedenkstätten, die an den Holocaust erinnern, unverzichtbar. Lammert: "Wenn ein Land, in dem so etwas statt gefunden hat, sich damit nicht mehr auseinandersetzen wollte, hätte es die Grundlagen der eigenen Zivilisation zur Disposition gestellt."
Kirsten Girschick
Am Morgen des 20. Januar 1942 treffen sich auf Einladung von SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich 15 Führungskräfte aus der zweiten Reihe des Dritten Reichs zu einer "gemeinsamen Aussprache" mit anschließendem Frühstück in der Villa "Zum Großen Wannsee 56-58".
Das schlossartige Anwesen mit Seeblick, 1876 erbaut für den Millionär Ernst Marlier, der sein Vermögen mit dem Verkauf dubioser medizinischer Präparate gemacht hat, verfügt über allen Komfort und Geselligkeitsräume vom Musik- bis zum Billardzimmer. Doch den Gästen geht es nicht um Geselligkeit, sondern um Vorbereitungen zur Ermordung von mehr als elf Millionen Menschen - so die Zielvorgabe im Sitzungsprotokoll.
Eine Blaupause für den Holocaust?
Ein offizieller Führerbefehl zum Völkermord an den Juden ist nicht erhalten und wohl auch nie erteilt worden. Ist die Konferenz der historische Moment, in dem NS-Rassenwahn in technokratisch geplanten Massenmord umschlägt? Das Protokoll die Blaupause dafür? Darüber diskutieren die Historiker seit den 1980er-Jahren - und haben zwei konträre Haupt-Hypothesen entwickelt.
Für die "Intentionalisten" ist der Völkermord - als Idee schon 1924 in "Mein Kampf" angelegt - ein spätestens seit 1938 schrittweise in die Tat umgesetztes Projekt Hitlers. Andere sehen in ihm eher einen Prozess, der von politisch-militärischen Wechselfällen und Sachzwängen im Zickzack geprägt und von rivalisierenden, sich in Auslegung des Führerwillens überbietenden Beteiligten auf allen Ebenen der Hierarchie teils improvisierend vorangetrieben wurde. Der 2015 verstorbene Historiker Hans Mommsen hat dafür den Begriff der "kumulativen Radikalisierung" geprägt. Jetzt hat sein Kollege Peter Longerich einen 220 Seiten kompakten Einblick ins Protokoll und Überblick über den Forschungsstand veröffentlicht.
1942: Das Morden hat längst begonnen
Fest steht: während es in der Villa am Wannsee nach Kaffee, Zigarren und viel Papier roch, dominierte anderswo längst der Todesgestank von Giftgas und hunderttausendfacher Verwesung. Schon im Sommer 1941, beginnend zwei Tage nach dem Überfall auf die Sowjetunion, wurden zehntausende Juden planmäßig erschossen.
In den überfüllten Ghettos im "Generalgouvernement" Polen provozierten die Besatzer Hungersnöte und Seuchen, die ihnen Munition, Zeit und Nerven sparen. Im Vernichtungslager Kulmhof (Chelmo) und in mobilen "Gaswägen" experimentierten die Mörder mit Kohlenmonoxid. Auch die Todesfabriken in Auschwitz-Birkenau und Majdanek hatten die Arbeit bereits aufgenommen.
Noch bei Kriegsausbruch hatten viele Funktionsträger die ebenso vage wie zynische Hoffnung gehegt, das "Problem" werde sich irgendwann von selbst erledigen. Weit über die Hälfte der Juden aus dem deutschsprachigen Raum waren da schon emigriert, Anfang 1942 dann über 500.000. Jetzt aber kamen die im Blitzkrieg eroberten Gebiete hinzu. Im Sommer 1940 entwickelten einige Technokraten die Idee, die mitteleuropäischen Juden ins französische Kolonialgebiet, namentlich auf die Insel Madagaskar zu verfrachten - als "Faustpfand in deutscher Hand für ein zukünftiges Wohlverhalten ihrer Rassegenossen in Amerika", so ein "Judenreferent". Doch das Projekt kam nicht voran, der Kriegseintritt der USA Ende 1941 machte es hinfällig. Überlegungen, die Juden in die Sowjetunion abzuschieben, wurden von der russischen Führung schon im Februar 1940 ausgebremst.
Neuer Lebens- und Vernichtungsraum im Osten
Der Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 verändert alles. Gut einen Monat später beauftragt Göring Reinhard Heydrich, den Gastgeber der Wannseekonferenz, die "Gesamtlösung der Judenfrage" vorzubereiten. Im Januar 1942 sind die Planer optimistisch, das Vorrücken der Frontlinie und den Völkermord in Einklang zu bringen. Mit monströser "Sachlichkeit", aber kaum verschleiert halten sie fest:
"In großen Arbeitskolonnen, unter Trennung der Geschlechter, werden die arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt, wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird. Der allfällig endlich verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesen zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen (...)."
Protokoll der Wannseekonferenz S.7/8
Wie man einen Völkermord organisiert
Die Anwesenden wissen, worum es geht. Diskutiert wird nicht das Ziel, sondern die Ausführung. Und es zeichnet sich ab, wie Völkermord in Arbeitsteilung funktioniert. Im Inneren der Macht: Die Auftraggeber in Führerhauptquartier, am Berghof oder auf Carinhall, frei von Zweifel und über jeden Zweifel erhaben. Im zweiten Kreis: die Chefdenker in SS und Verwaltung, die sich als Angehörige einer Fachelite sehen und sich die grauenhaften Konsequenzen ihrer Planungen räumlich wie sprachlich bestmöglich vom Leib halten.
Lösungsorientiert: Die Sprache des Völkermords
Von der "Lösung der Judenfrage" ist schon bei antisemitischen Autoren des 19. Jahrhunderts wie Eugen Dühring die Rede. Bei den Nazis wird zuerst "Gesamtlösung", seit 1941 die "Endlösung" zum Schlüsselbegriff. Was genau darunter zu verstehen ist, verrät das Protokoll der Wannseekonferenz - freilich in durchweg euphemistischer Form.
Wo Juden vertrieben oder zur Emigration genötigt werden, ist von "(beschleunigter) Auswanderung" die Rede. Jetzt kommt "als weitere Lösungsmöglichkeit" die Deportation dazu, die durchgehend als "Evakuierung" verbrämt wird - eine Sprachlogik, die dem Begriff der "Schutzhaft" für die ersten KZ-Gefangenen entspricht. Wo gemordet werden soll, spricht der Text von "spezieller" oder auch "tiefergehender" "Behandlung" oder schlicht der "Regelung des Problems". "Gewisse vorbereitende Arbeiten" seien in den betreffenden Gebieten selbst durchzuführen, wobei "eine Beunruhigung der Bevölkerung vermieden werden müsse". Die anschließenden Aktivitäten lassen keinen Zweifel, dass die Anwesenden wussten, was sie taten. Dennoch gaben mehrere nach 1945 an, es sei nur von "Aussiedlung" die Rede gewesen - sofern sie sich an ihren Wannseeaufenthalt erinnerten.
Bleiben die Ausführungsorgane vor Ort. Wer sind sie, die Praktiker des Todes? Vom ungeheuren Plan Begeisterte? Entfesselte Sadisten? Enthemmte Opportunisten?
All das in erschreckend großer Zahl. Und viele Retter der eigenen Haut. In Summe "Ganz normale Männer": so der Titel einer richtungsweisenden Studie von Robert Browning über ein Hamburger Polizeibataillon, das im Sommer 1942 in Polen umsetzt, was am Wannsee beschlossen wurde, und tausende Juden, auch Frauen und Kinder, liquidiert. Der Druck des stärkeren Willens und die Umstände formen diese Männer zu Tötungsmaschinen - in Gang gesetzt von Marsch- und Mordbefehlen, einer psychischen Ausnahmesituation und der Dynamik der Gruppe, dann weitergetrieben von abstumpfender Gewohnheit und der mit jedem Toten stärker bindenden Gemeinschaft der Schuld, aus der es eine Rückkehr in das Leben davor nicht gibt.