Polizeiruf 110 BR fördert Diskussion über Jugendschutz
Nach der Verschiebung des "Polizeiruf 110 - Denn sie wissen nicht was sie tun" auf einen späteren Sendeplatz hat sich eine rege Diskussion entwickelt. BR-Fernsehdirektor Prof. Gerhard Fuchs hatte entschieden, die Folge aus Gründen des Jugendschutzes erst ab 22 Uhr zu senden. Die Diskussion über die Schutzbedürftigkeit von Kindern vor Gewaltdarstellungen wird vom Bayerischen Rundfunk ausdrücklich begrüßt.
27. Juli
Mittwoch, 27. Juli 2011
Pressekontakt: pressestelle@br.de
Fernsehdirektor Prof. Gerhard Fuchs, der die Verschiebung der Polizeiruffolge auf eine spätere Sendezeit entschieden hat, unterstützt eine kontroverse Auseinandersetzung: Welche Szenen können 12-Jährigen um 20.15 Uhr zugemutet werden? Der Regisseur des im Mittelpunkt stehenden Polizeirufs, Hans Steinbichler, sagt, diese Entscheidung sei ein diskussionswürdiger Präzedenzfall. Beide Beiträge gibt der BR in Gänze wieder.
Empfehlung der Jugendschutzbeauftragten
Ausgangspunkt ist eine Empfehlung der Jugendschutzbeauftragten des BR, Dr. Sabine Mader. Sie hatte von einer Freigabe ab 12 Jahren abgeraten. Zur Begründung hatte Mader in ihrer Stellungnahme Ende Juni angeführt: "Der Anschlag des Selbstmordattentäters, die Tunnelszenen und die Szenen vor dem Tunnel sind für die jugendschutzrechtliche Bewertung die wesentlichen Szenen. Die Vielzahl der schrecklichen Bilder nach dem Selbstmordattentat im Tunnel und die durchgängig gehaltene Spannung, durch die Angst vor einem weiteren Attentat, sind für Kinder als problematisch anzusehen. Entspannende Momente finden kaum statt".
Diesen durchgreifenden Bedenken des Jugendschutzes hatte sich daraufhin Fernsehdirektor Fuchs angeschlossen und entschieden, vom regulären Sendetermin um 20.15 Uhr - hier Altersfreigabe ab 12 Jahren - abzuweichen.
"Risiko einer nachhaltigen Angsterzeugung"
Die Jugendschutzbeauftragte führt aus, dass bei einer Altersgruppe unter 14 Jahren das "Risiko einer nachhaltigen Angsterzeugung" bestehe. Die Jugendschutzbeauftragte Mader hat zusätzlich darauf hingewiesen: "Die Entscheidung des Fernsehdirektors und die Empfehlung der Jugendschutzbeauftragten basieren auf den zwingend zu beachtenden gesetzlichen Regelungen des Jugendmedienschutzes. Für Filme gelten andere, strengere Regeln als für Nachrichten. Diese privilegiert der Gesetzgeber."
Derzeit sucht der BR in engem Kontakt mit der Programmplanung Das Erste nach einem geeigneten Sendetermin, der den Jugendschutzbelangen gerecht wird.
Die Standpunkte
Prof. Dr. Gerhard Fuchs, BR-Fernsehdirektor
"Eine Entscheidung hat etwas Finales - sie steht am Ende des Abwägens von Vor- und Nachteilen mehrerer Optionen und sie gibt eine Richtung vor. Im konkreten Fall des 'Polizeiruf 110 - Denn sie wissen nicht, was sie tun' ging es um das Abwägen zwischen der Wahrung der Freiheit der Kunst ohne Einschränkungen auf der einen Seite und dem Schutz von Kindern und Jugendlichen durch die Beschränkung der Sendezeit für ein filmisches Kunstwerk auf der anderen Seite. Diese Entscheidung bedeutet aber mehr - sie steht am Beginn eines gesellschaftlichen Diskurses, dessen Ergebnis offen ist.
Mit diesem Polizeiruf ist ohne jeden Zweifel ein beeindruckend dichtes und spannungsgeladenes Filmwerk gelungen, das darüber hinaus getragen wird von einer herausragenden darstellerischen Leistung von Matthias Brandt. Hans Steinbichler hat hier erneut sein feines Gespür und großes Können als Filmemacher gezeigt, und es ist mir eine große Freude und Ehre, die Entwicklung dieses Ausnahmetalents seit seinen Tagen an der Hochschule für Fernsehen und Film begleiten und befördern zu dürfen.
Anspruchsvolle Filme wie der Polizeiruf oder der Tatort dürfen - ja müssen sogar - bei ihrem Versuch, gesellschaftliche Strömungen und Empfindungen darzustellen, immer wieder Grenzen suchen, testen und überschreiten. Den Mut, den Hans Steinbichler - ebenso wie die betreuende Redaktion - gezeigt hat, schätze ich sehr und halte als Mentor meine schützende Hand über sein Werk.
Als Fernsehdirektor stehe ich aber auch in der Verantwortung, das hohe Gut des Jugendschutzes zu gewährleisten. Mit meiner Entscheidung, diesen Film erst ab 22.00 Uhr zur Ausstrahlung freizugeben, ist eine wichtige Debatte angestoßen, deren Aktualität und Notwendigkeit vor dem Hintergrund der verstörenden Anschläge in Norwegen noch deutlicher geworden ist. Was wollen wir unseren Kindern und Jugendlichen um 20.15 Uhr zeigen, was wollen wir ihnen zumuten? Sicher, die Darstellung von Gewalt und Leid, von menschlichen Abgründen, von Hoffnungs- und Ausweglosigkeit ist lange schon Alltag in der medialen Landschaft. Aber das sollte uns nicht daran hindern inne zu halten und über unsere Arbeit und deren Wirkung zu reflektieren.
Das Echo in den Zeitungen der letzten Tage hat mich bestärkt: Wir sind auf dem richtigen Weg, wenn wir diese Debatte in die Redaktionen tragen und dort offen und kontrovers führen."
Hans Steinbichler, Regisseur
"Es ist schwer oder zumindest schwer erträglich, nach Oslo über etwas zu diskutieren, das, angesichts der Schwere und Relevanz dieser Tat, fast unwichtig und überflüssig erscheint: nämlich über die Frage, ob ein Krimi um 20.15 oder aber um 22.00 Uhr im Deutschen Fernsehen zu sehen sein soll.
Da aber dieser Polizeiruf vom vielfachen Töten unter ideologischen Bedingungen handelt, muss darüber geredet werden. Denn dieser Film hat von nun an, ob ich das will oder nicht, einen Kontext oder eine Verbindung zu den Vorgängen des 22. Juli in Oslo.
Die Krux des 'Polizeiruf 110 - Denn sie wissen nicht, was sie tun' ist: Er versucht eine Realität abzubilden, die es noch gar nicht gibt und die es hoffentlich in unserem Land nie geben wird. Der Film erzählt von einem ideologisch-politisch motivierten Attentat eines islamistischen Einzeltäters auf unsere Bürgergesellschaft mit vielen Opfern und unabwägbaren Folgen.
Es ist schon ein unglaublich hohes Gut, einen derartigen Film zu denken, zu schreiben und realisieren zu dürfen. Und es ist des weiteren ein hohes Gut, dass dieser Film quasi ohne redaktionelle oder senderinterne Denkverbote fertig gestellt und (beim Filmfest München) einer Öffentlichkeit gezeigt werden konnte.
Das höchste Gut aber ist es, einen derartigen Film zur besten Sendezeit, an einem Sonntag um 20.15 Uhr, einem garantierten Millionen-Publikum zeigen zu dürfen. Denn genau hier erfüllt das Fernsehen für mein Empfinden seinen Kulturauftrag. Mutig ein Thema anzupacken, das die Gesellschaft bewegt und damit ins Gespräch zu kommen: mit den Zuschauern, mit der Politik und mit der Gesellschaft.
Dieses Gut hatte der Fernsehdirektor des Bayerischen Rundfunks Gerhard Fuchs gegen das Gut des Jugendschutzes abzuwägen. Er hat sich, was die Sendezeit betrifft, für das hohe Gut des Jugendschutzes entschieden - und gegen die sogenannte Freiheit der Kunst. Wissend, das es anderen Sendern egal wäre, wissend, dass das Internet die Jugendlichen von 'unten' mit zügelloser Gewalt immer und allzugänglich flutet und wissend, dass die Nachrichten jeden Tag Unerträgliches Leid zeigen und berichten.
Ich habe Gerhard Fuchs in einem Gespräch gesagt, dass ich seine Entscheidung respektiere. Ich habe ihm auch gesagt, dass ich die Teilbegründung der Jugendschutzbeauftragten, der Film gefährde durch die Sicht auf einen 'hilflosen Staat' die Entwicklung Jugendlicher, für gefährlich halte. Ich sagte ihm ebenso, ich hätte anders entschieden - und nicht nur meinetwegen.
Für mein Empfinden hat Gerhard Fuchs mit der Bewertung dieses Polizeirufs einen Präzedenzfall geschaffen, der eine sehr notwendige Diskussion um Sinn und Wirklichkeitsnähe des gesetzlichen Jugendschutzes in Gang bringen kann und muss. Das würde nicht nur den Jugendlichen, sondern der ganzen Gesellschaft nutzen. Weil ich glaube und annehme, dass Gerhard Fuchs diese Diskussion ernst nimmt, habe ich seine Entscheidung, so bitter sie für mich als Filmemacher ist, akzeptiert. Ich denke, dass diese Diskussion den Zeitpunkt 20.15 in Deutschland verändern wird und vielleicht verändern muss. Den Preis, dass 'mein' Polizeiruf deswegen später laufen muss, zahle ich dann gerne."