HipHop-Trend-Revival Warum stehen plötzlich alle auf Grime?
Dreckiger Sound und Highspeed-Rap: US-Rapper wie Kanye West gehen gerade voll auf Grime ab. Vor zehn Jahren hat die britische Rap-Variante den Sprung aufs internationale HipHop-Parkett knapp verpasst. Wird diesmal alles anders?
Das Highlight bei den Brit Awards 2015. Kanye West performt "All Day" mit gefühlt hundert Männern in schwarzen Hoodies und Flammenwerfern statt Kronleuchtern. Im Publikum kollektive Schockstarre - nur Kanyes BFF Taylor Swift wird offensichtlich von einer Taser-Pistole getroffen und zuckt unkontrolliert herum. Ganz am Ende der Performance ruft Kanye: "Yo Skepta!" Skepta? Was zur Hölle meint Kanye mit Skepta? Das fragen sich vor allem in Amerika die Yeezy-Fans. In England aber kennt jeder Rap-Fan Skepta - der hat sich schon 2008 selbst zum "King of Grime" gekürt, dem englischen Rap-Ableger. "#ThatsNotMe" mit seinem Bruder JME war 2014 einer der besten Rap-Tracks. Weltweit!
Mittlerweile war Kanye West mit Skepta auch auf der Bühne und im Studio - und mit seiner neu entdeckten Liebe zu Grime-Sounds ist er nicht allein. Grime ist der neue Trap. Der dreckige Undergroundsound aus dem UK wird dieses Jahr auch die Amis einsauen. Endlich! Immerhin hätte es vor zehn Jahren schon in den Staaten so weit sein können. Aber von vorn.
Die Geschichte des Grime
In den 90er Jahren verbreitet sich HipHop von den USA aus in die ganze Welt und findet auch in Europa Nachahmer. In Großbritannien trifft er auf eine ohnehin schon sehr lebhafte Musikszene. In den Straßen von East London feiert man zu der Zeit den elektronischen Garagesound 2Step, während eine aktive afroamerikanische Kultur im Dancehall-Fieber steckt - und auch mit Rap wird experimentiert.
Der Anfang ist ziemlich LoFi. Kids basteln Beats aus Computerspiel-Sounds und billigen Drums. Manche nennen das Sublow, weil tiefe Bässe verwendet werden, oder Eskibeat, eine Bezeichnung, die auf Grime-Pionier Wiley zurückgeht. Seinen Namen hat der neue Sound noch nicht - aber eine Plattform: Piratenradios wie Rinse FM, die von Londoner Wohnblocks aus Rundfunk-Frequenzen kapern und zum Medium für Grime werden.
Die typischen elektronischen Sounds, gemischt mit dem Stakkatoflow des Rappers, verbreiten sich schnell in ganz London und kommen auch in Städten wie Brighton und Manchester gut an. Zunächst bleibt Grime aber ein britisches Phänomen. Den Sprung vom Untergrund in den Mainstream schaffen nur einige der Grime-MCs: The Streets, Dizzee Rascal oder Wiley und Kano.
Mit einigen Jahren Verspätung schwappt Grime Mitte der Zweitausender auch von den Inseln in den Rest der Welt. Busta Rhymes zeigt sich beeindruckt von den englischen Rappern, und Jay-Z nimmt die damals 20-jährige Lady Sovereign unter Vertrag. Aber die Grime-Schleuder klatscht daneben. Amis sind überfordert mit derbem High-Speed-Rap in Cockney-Dialekt. Und das Garage-Geballer zündet einfach nicht bei Boom-Bap- und R'n'B-Fetischisten. Daheim in Großbritannien findet wiederum der internationale Soundkompromiss wenig Liebe. Grime bekommt den Totenschein ausgestellt. Aber die Szene tanzt auf ihrem eigenen Grab.
Grime lauert im Underground
Grime bleibt dreckig, rau und explosiv. Nur findet das abseits der Inseln höchstens Aufmerksamkeit in Kennerkreisen. Zum omnipräsenten, heißen Scheiß wird stattdessen Trap. So heiß, dass selbst Katy Perry Weichspül-Trap macht.
Elektronische Beats, Drops und Wobblebässe sind angekommen im Ami-Rap. Aber HipHop lechzt weiter nach Fortschritt. Rapper und Produzenten wie Kanye West suchen wie die Trüffelschweine nach neuen Sounds, um einen auf Tastemaker zu machen. Und um die eigenen Hörer mit frischen Einflüssen herauszufordern, ja regelrecht zu überfordern. Und plötzlich stehen da wieder diese wütenden Engländer vor der Tür!
Alte Bekannte, frische Newcomer
Grime klingt heute durch HipHop-Evolution und Dubstep-Welle der letzten Jahre nicht mehr so außerirdisch in Ami-Ohren wie vor zehn Jahren. Der Witz: Die Schlüsselfiguren sind noch die selben. Die Urgesteine und Szene-Paten Wiley und Kano klatschen nach wie vor alles an die Wand, und dann ist da noch das Grime-Monster Skepta. Skepta, den Kanye West auf die Bühne, ins Studio und damit direkt ins Auge des weltweiten Rap-Tornados holt.
Aber auch die nächste Generation steht schon bereit: Stormzy, Danny Seth, Novelist oder Little Simz - ein Haufen MCs, heiß auf den Durchbruch. Beats und Instrumentals ploppen ununterbrochen aus der schier uferlosen Grime-Produzentenhorde in Großbritannien. Und mittlerweile auch in den USA. Grime ist gerade überall. Sogar Indiefrickler wie Everything Everything pimpen ihren Sound mit Grime-Flows.
Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: Die Geschichte wiederholt sich und Grime verschwindet aufs Neue im Königreich. Oder aber - viel wahrscheinlicher: Grime kann 2015 mit der zweiten kompromisslosen Attacke tatsächlich die Mauern zwischen Rap, Grime und Pop einreißen. Und wer weiß, vielleicht haut Mileys nächster Wrecking Ball den Charts dann mit 140BPM aufs Maul.