Auf beste Nachbarschaft Von Freundschaft, Streit und Thujahecke
Man sucht sie sich nicht aus und man entkommt ihnen auch nur schwer – Nachbarn sind ein bisschen wie Familie. Flüchtige Bekanntschaften und Freunde für's Leben gibt es ebenso wie regelrechte Nachbarschaftskriege. Das Phänomen Nachbarn, von allen Seiten beleuchtet.
"Ein guter Nachbar ist jemand, der dir über den Gartenzaun zulächelt, aber nicht darüber klettert."
Arthur Bär, Schriftsteller
Eigentlich wollte Marianne Vollmann nur den Lokalteil der Erlanger Tageszeitung lesen. Doch sie wohnt in Dormitz im Landkreis Forchheim, knapp an der Grenze zum Nachbar-Landkreis Erlangen-Höchstadt und damit auch knapp getrennt vom gewünschten Erlanger Lokalteil. Doch Marianne Vollmann hat Glück. Ihr Sohn leitet von Berlin aus eine deutschlandweite Internetseite für digitale Nachbarschaften – nebenan.de.
Hier schließen sich Menschen mit anderen in ihrer unmittelbaren Umgebung online zu "Nachbarschaften" zusammen, bieten Dienstleistungen an, helfen sich gegenseitig aus. So suchte suchte Marianne Vollmann im 2.000-Seelenort Dormitz ihren Erlanger Zeitungslokalteil. Denn das klassische Klingeln beim Nachbarn nebenan, das gibt es nicht mehr so – auch auf dem Dorf.
"Die Ortschaften werden immer größer", erklärt Frau Vollmann. Und dann die ganzen Zugezogenen. "Mit denen kommen wir nicht in Kontakt." Die unmittelbare Nachbarschaft lernt man mit der Zeit kennen, sagt sie, aber schon die Menschen drei Häuser weiter sind kennt man nur vom Grüßen. Durch das Internetportal bekommt jeder Zugang zur Nachbarschaft. "Über dieses Medium fragt man doch mal jemanden, was ihn interessiert und so lernt man viele Familien auch ein bisschen näher kennen."
"Die Zugezogenen sind ganz offen dafür"
Faktische Gartenzäune findet man in Dormitz in Hülle und Fülle, in jeder Form, Farbe und Beschaffenheit. Und nun eben auch einen digitalen, an dem sich mittlerweile fast 200 Dormitzer zum digitalen Plausch treffen. Die älteste Online-Nachbarin ist 83. Viele Alteingesessene sind allerdings nicht dabei, sagt Frau Vollmann, und die, die sich angemeldet haben, posten gar nichts. "Die beobachten nur. Aber die neu Zugezogenen sind ganz offen dafür."
Nachbarin Gerda Spiegelhauer schaut vorbei. Mittlerweile haben die Spiegelhauers und Vollmanns einiges am Hausrat über nebenan.de getauscht. Gerda Spiegelhauer hat schon Probleme, jemanden um ein Ei zu bitten, sagt sie von sich selbst. Inzwischen postet sie sogar Aufrufe zu Demonstrationen in die digitale Dormitz-Nachbarschaft und findet Mitstreiter.
Am digitalen Gartenzaun
Sie ist mutiger geworden und hat so eine neue Kontaktmöglichkeit gefunden. Auf direktem Weg hätte sie sich nicht getraut, ihre Nachbarn anzusprechen. Am digitalen Gartenzaun wird niemand mit seinem Hilferuf an der Tür des Nachbarn abgewiesen. Wer nichts Passendes zum Ausleihen hat, der meldet sich auf der Plattform einfach nicht.
Eigentlich hat Marianne Vollmanns Sohn Christian nebenan.de für Großstädter gegründet. Er wollte sie aus ihrer Anonymität herausholen und mit anderen zusammenbringen, den urbanen Dschungel ein bisschen lichten. Dass seine Online-Nachbarschaft auch in seinem Heimatort Dormitz funktioniert, überrascht ihn aber nicht.
Als er das allererste Mal in Berlin bei seinem Nachbarn geklingelt hat, war er ungeheuer nervös. "So nervös, wie ich eigentlich sonst beim Heiratsantrag war", erinnert Christian Vollmann sich. "Es ist einfach unheimlich: Diese Hürde, einfach mal zu klingeln, ist so hoch geworden, dass wir es nicht mehr tun." Erfolgt der erste Schritt aber online, fällt der Kontakt im echten Leben leichter, sagt Vollmann. "Dann ist das Eis gebrochen."
"Wenn du wissen willst, was dein Nachbar von dir denkt, so fange einen Streit an."
Weisheit aus Simbabwe
Nachbarschaftsstreit. Davon hat Friedrich Weitner schon sehr viel mitbekommen. Weniger als Betroffener, mehr als Jurist. Drei Jahre war er als Anwalt in Schwabach tätig, und Streit zwischen Nachbarn gehörte da zum Alltagsgeschäft. "In vielen Fällen kann man beobachten, dass Leute, die sich sehr, sehr gut verstanden haben, eine sehr gute Nachbarschaft ein freundschaftliches Verhältnis hatten, sich dann plötzlich nicht mehr gut verstehen", erklärt er. Auslöser sind oft Kleinigkeiten, die ein sehr freundschaftliches Verhältnis plötzlich zum Eskalieren bringen.
Bei solchem Streit geht es oft sehr emotional zu, das hat Herr Weitner auch später als Staatsanwalt gemerkt. Da kam es zwischen Nachbarn schon mal zu Körperverletzungen, Sachbeschädigung, "wo einer dem anderen irgendwie die Mauer beschmiert oder Autoreifen zersticht." Und auch als Pressesprecher am Oberlandesgericht Nürnberg kommt er immer wieder mit Nachbarn in Berührung, die sich "in einer Art und Weise untereinander bekriegen, dass es dann letzten Endes leider bei Gericht landen muss", sagt er.
Mordanklage wegen der Hecke
Ein Fall landete sogar vor dem Schwurgericht verhandelt, an dem Tötungsdelikte verhandelt werden. Ein Mann hatte sich über eine nicht geschnittene Hecke geärgert, ging zu seinem Nachbarn, übergoss ihn mit Benzin und zündete ihn an. "Er war wegen versuchten Mordes angeklagt und wurde auch zu vielen Jahren Gefängnis verurteilt". erinnert sich Weitner.
Er unterscheidet drei Gruppen von streitenden Nachbarn: "Einmal wenn Einwirkungen vom Nachbargrundstück ausgehen, also beispielsweise Geräusche oder Gerüche. Die zweite Gruppe ist, wenn Nachbarn sich zu stark vom anderen Nachbarn beobachtet fühlen oder gestalked fühlen." Und dann gebe es die berühmten Büsche, die zu Nachbars Grundstück herüberwachsen. Auch solche Fälle landen vor Gericht.
"Ich erinnere mich an einen Fall, da wo es darum ging, dass ein Kind einen relativ wertlosen Plastikball über den Zaun geschossen hatte." Als ihn der unbeliebte Nachbar nicht zurückgeben wollte, kam es erst zur Strafanzeige wegen Unterschlagung des Balles und dann zur Zivilklage auf Rückgabe desselben. "Da fragt man sich natürlich schon" so Weitner, "bei einem Wert von vielleicht unter fünf Euro des Balles, ob das dann sinnvoll ist."
Manchmal geht es um etwas ganz anderes
"Es gelingt manchmal, die Parteien auch wirklich zu befrieden, indem man einen Vergleich abschließt und Regelungen trifft, wie das Zusammenleben künftig funktioniert", erzählt Weitner weiter. "Wenn natürlich die menschlichen Beziehungen nicht mehr stimmen, da wird es für uns schwierig, aber auch da versuchen wir Hilfe zu leisten, zum Beispiel auch durch das Angebot einer Mediation."
"Bei vielen Fällen denkt man sich, man hätte das Ganze besser mal abends bei einem Gespräch lösen sollen", ist sich Weitner sicher. Oft sei ein viel tiefer gehendes Problem vorhanden, das in einem Rechtsstreit vielleicht gelöst werden kann. Speziell ausgebildete Güte-Richter lösen in der Mediation immer mal wieder auch Knoten, die ganz andere sind als diejenigen, die eigentlich auf dem Tisch lagen.
"Der größte Feind nachbarlicher Beziehungen ist die immergrüne Thujahecke."
Erwin Koch, deutscher Aphoristiker
Manche Nachbarschaftsverhältnisse sind einfach nicht erstrebenswert. Eine Mauer als klare Trennung ist manchmal eine Lösung. Oder Stacheldraht. In der Justizvollzugsanstalt (JVA) Nürnberg will niemand Nachbar eines anderen sein. Die Wahl des freien Wohnsitzes haben die Insassen verwirkt, ihre Nachbarschaft wird fremd organisiert und überwacht.
Die JVA ist immer gute ausgelastet, der Raum ist also knapp und muss optimal genutzt werden. Es gibt 652 Zellen für die Einzelhaft - etwa neun Quadratmeter, in denen sich Gefangene zurückziehen können. "Das ist sicherlich die optimale Unterbringung", sagt der Nürnberger JVA-Chef Thomas Vogt. Ihre Belegung macht der Verwaltung der JVA eher wenig Probleme. Anders sieht es aus mit den 309 Plätzen in den Gemeinsschaftsunterkünften.
Raucher oder Nichtraucher?
"Hier haben wir Zweier-, Dreier- oder Vierer-Gemeinschaften. Und da muss man schon schauen, dass das Gemeinschaften sind, die harmonieren", sagt Vogt. Mit jedem neuen Gefangenen werden sogenannte Zugangsgespräche geführt, und danach beurteilt, wer mit wem am besten harmonieren kann, Psychologen und Sozialarbeiter bilden sich ein fachlich fundiertes Urteil über die Gefangenen, so Vogt weiter: "Für uns ist wichtig, dass wir Gefangene unterstützen, ihre Zeit in Haft vernünftig hinter sich zu bringen, dass wir aber auch Sicherheitsinteressen beachten, damit die Zelle kein Raum wird, in dem sich neue strafrechtliche Situationen entwickeln können."
Manche Gefangene wollen auch die Gemeinschaft, sei es wegen persönlicher Vorlieben oder gewisser gesundheitlicher Defiziten. "Jemand der depressiv ist oder suizidal sein könnte ist natürlich in einer guten Dreier- oder Vierer-Gemeinschaft weit besser aufgehoben als alleine oder in einer Zweier-Gemeinschaft", erklärt der JVA-Leiter. Beachtet werden müssen auch potentielle Konflikte durch Raucher und Nichtraucher, verschiedene Nationalitäten und unterschiedlichen Delikten, die zur Haftstrafe geführt haben, sagt Vogt: "Es wäre ungut, einen wegen sexuellen Missbrauchs Verurteilten in U-Haft mit jemandem zusammenzubringen, der wegen eines Körperverletzungsdelikts da ist" - dann droht Selbstjustiz. Wenn das nicht so funktioniert wie gewünscht, dann muss schnell reagiert und die Betroffenen auseinandergelegt werden.
Nachbarschaftshilfe in der Subkultur
Doch es gibt auch funktionierende Nachbarschaften im Knast. "Man unterstützt sich auch im Haftraum", beschreibt das Vogt. Das heißt zum Beispiel, dass ein Gefangener den anderen, der sich nicht zu helfen weiß, bei der Schreibarbeit hilft oder man sich gegenseitig in Sprechstunden vertritt. Vogt spricht dabei von "Unterstützungen im legalen und korrekten Bereich", doch gibt es auch subkulturelle "Nachbarschaftlichkeiten", die in Straftaten enden, Stichwort Rauschgift. "Da gilt es halt immer diese Waage zu finden, dass man sagt, so viel Gemeinschaft und gute Gemeinschaft wie möglich. Aber die Justizvollzugsanstalt muss jederzeit die Kontrolle haben."
"Leute, die in Neubauten Wand an Wand wohnen, scheinen oft zu vergessen, dass sie auch Tür an Tür wohnen."
Andre Brie, Aphoristiker
Nicht weit weg von der Nürnberger Justizanstalt im Westen der Stadt liegt eine weitere Grenze zwischen zwei Nachbarn, ganz ohne Zäune und Mauern: die längst zusammengewachsenen Nachbarstädte Nürnberg und Fürth. Viele bescheinigen ein spannungsbehaftetes Verhältnis zwischen ihren Bewohnern, doch das abgedroschene Klischee einer Fehde zwischen Nürnberg und Fürth ist längst passé. Gewohnt wird dort, wo es Wohnungen gibt.
Da, wo das Ortsschild die Stadtgrenze zwischen den Städten markiert, haben sich Uwe und Darius hinter dicken Sandsteinmauern ihren Traum von Schöner Wohnen verwirklicht. Ihre Altbauwohnung ist ein Design-Schatzkästchen. Riesige Kronleuchter, knarrendes altes Parkett, jedes Möbelstück ist perfekt auf das andere abgestimmt, große Fotografien hängen an der Wand. Ihre Wohnung ist so etwas wie eine Wohnkapsel, die man so sicher auch nach Berlin, München, New York verlegen könnte. Eine abgeschlossene Wohnidylle in vier Wänden, losgelöst von der Nachbarschaft.
Der Bürgermeister wohnt im Erdgeschoss
Stimmt so aber nicht. "Also nach 13 Jahren", sagt Uwe, "kenne ich hier so viele Leute, wenn auch nur vom Begrüßen. Ja, wir haben einen Nachbarn hier, alle nennen ihn den Bürgermeister, der steht hier um sieben Uhr morgens auf und stellt sich hier an der Kreuzung und beobachtet alles was passiert und man fühlt sich sicher."
Uwe ist international erfolgreicher Modefotograf, sein Mann Darius arbeitet für einen großen Sportartikelhersteller. Die beiden fliegen neun von zwölf Monaten berufsbedingt durch die Welt. Natürlich haben Nachbarn auch ganz praktische Vorzüge, "wenn meine Päckchen angenommen werden", lacht Darius. Aber beide genießen ihre Umgebung, ihre Nachbarschaft. Und das am liebsten ganz direkt und unmittelbar.
Nachbarschaft ist, wenn man sich traut
"Wir hatten hier genau unter uns eine türkische Familie", erinnert sich Uwe "Es roch immer so lecker im Haus. Die Mama hat gekocht. Irgendwann habe ich bei ihr an der Tür geklopft und gefragt, ob ich mitessen darf. Es war das Größte für sie, mich abzufangen auf der Treppe und mir zu sagen, dass sie etwas Leckeres gekocht hat und mitgenommen." Mittag- oder Abendessen waren gesichert, weil er sich getraut hat, anzuklopfen. "Ich finde genau das ist Nachbarschaft, dass man sich wirklich traut den anderen anzusprechen und den anderen auch einzuladen."
Es ist eine Gemeinschaft, die sich umeinander kümmert. Vor einem halben Jahr, erzählt Darius, roch es plötzlich nach Rauch im Haus. "Es hat keine Minute gedauert, da jeder war aus dem Haus raus", jeder war unterwegs und hat gefragt, wie es den anderen geht. Liegt es an der Beständigkeit der Bewohner, dass keine Gleichgültigkeit aufkommt? Viele Wohnen seit Jahren in dem Haus, manche seit Jahrzehnten, meint Darius. "Man merkt, selbst in der Anonymität der großen Häuser hier, dass man sich trotzdem kennt. Und das ist immer ganz gut."
"Kein Mensch ist so reich, dass er nicht einen Nachbarn brauchte."
Volksweisheit aus Ungarn