Bussi, Bussi und Hand drauf! Rituale im Wandel
Kein Handschlag zur Begrüßung oder zum Abschluss eines Geschäfts; auch kein Bussi Bussi mehr: Ein Zeit-für-Bayern-Feature darüber, wie die Pandemie unsere Rituale verändert.
Wir alle brauchen Nähe, Körperkontakt. Mag auch die Computertechnik vieles können - Gemeinschaft kann sie nicht ersetzen. Denn Tele-, also Fernkommunikation ist eigentlich ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich. In der Kommunikation steckt die communio drin, die Gemeinschaft. Und die gibt's nur persönlich. Noch deutlicher wird's in der lateinischen conversatio, der Konversation. Das bedeutet ja eigentlich Zuneigung, Zuwendung - und auch das geht so richtig nur persönlich, mit Körperkontakt eben. Das fängt bei der Begrüßung an. Tanja Gronde fragt in ihrem Feature Bussi, Bussi und Hand drauf, was uns da in Coronazeiten buchstäblich abhandengekommen ist und was uns möglicherweise dauerhaft fehlt. Sind unsere Mitmenschen überhaupt noch vorhanden, wenn wir niemanden mehr vor Händen haben?
"Ich begrüße gern mit Handschlag. Im Moment ist es, also, wird es abgelehnt. Und ich versteh's auch und respektier's auch. Aber grundsätzlich jedes Lebewesen braucht die Berührung, also der Mensch kann ohne Berührung überhaupt nicht leben."
Norbert Nemetz, Handwerksmeister, Gründer des Museums Kulturgeschichte der Hand
Judith Faltl ist blind. Und sieht doch mit den Händen. Der Handschlag der erste Eindruck, der auch Orientierung gibt. Die Landesvorsitzende des Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbundes vermisst den Handschlag - nicht nur weil sie nicht sehen kann.
"Es fehlt einem die Nähe. Es fehlt einem einfach, den Menschen wahrzunehmen. Und es bringt auch einfach ganz viel Unsicherheit mit sich. Weil durch das Hand geben, weiß ich ja dann auch schon mal, dass man richtig zueinander positioniert ist, wenn man miteinander spricht. Und wenn ich aber die Hand net gebe, dann muss ich immer erst mal die Stimme hören, wo der Kopf ist, damit ich auch mich in die richtige Richtung drehen, weil das sonst ja auch unfreundlich ausschaut, wenn man mit jemandem redet und steht zehn Zentimeter weiter rechts als der und schaut an dem vorbei."
Judith Faltl, Landesvorsitzende des Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbundes
Der Handschlag hat eine lange Tradition: Es gibt Abbildungen aus der Antike, die zwei Menschen zeigen, die sich die Hand geben. Ob zur Begrüßung oder zum Handel treiben? Vermutlich eher letzteres. Der Handschlag versichert: Mein Wort gilt. Wir sind im Geschäft.
Selbstverständlich gibt's scheinbar viel schlimmere Folgen der Pandemie - existenzielle und gesellschaftliche: Wie soll man in Kurzarbeit oder ohne Engagements die Miete zahlen? Wer versöhnt die zerrissenen Lager "Coronaleugner" versus Wissenschaftler - Maßnahmengegner contra Befürworter? Dieter Frey, Sozial- und Wirtschafts-Psychologe, Professor an der LMU München meint, der Mensch braucht Rituale. Wie den Handschlag. Davon hängt seine Zugehörigkeit in Gruppen ab.
"Ich weiß auch von vielen anderen Leuten, die sehr darunter leiden, weil für sie der Handschlag ein Symbol für Nähe ist, des persönlichen Wiedersehens. Aber im Laufe der Geschichte haben sich Rituale immer verändert. In anderen Kulturen gibt es andere Begrüßungsformen. Und ich behaupte, Menschen passen sich hervorragend externen Bedingungen an. Sonst hätten sich die Menschheit ja gar nicht entwickelt. Also für mich ist Leben immer auch Anpassung und Rituale sind für mich auch mal Anpassung. Und wenn der Handschlag nicht mehr möglich ist. Dann gibt es ganz ähnliche andere Symbole des persönlichen Näherkommens, des Kennenlernens, des Begrüßens."
Prof. Dieter Frey, Sozial- und Wirtschafts-Psychologe LMU München
Das trifft auch die Kirchen. Der Leib Christi soll schon mit Pinzetten und Grillzangen ausgeteilt worden sein - Mundkommunion, wie sie viele Katholiken und vor allem die Bruderschaften zelebrieren, die sich nach dem zweiten Vatikanischen Konzil abgetrennt haben, ist momentan auf Grund der Auflagen nicht erlaubt. Monika Selle, Beauftrage für die Liturgie des Erzbistums München Freising, hat die staatlichen Auflagen, die das Ausbreiten des Covid 19 Virus eindämmen sollen, für die Kirchen und Pfarreien umgesetzt.
"Ja, es fehlen natürlich sehr viele Dinge, die mit der persönlichen Berührung zu tun haben. Das hängt einfach mit dem ganzen Infektionsgeschehen zusammen, mit dem wir uns herumschlagen müssen. Also denken Sie wir nehmen normalerweise ja Weihwasser, wenn wir die Kirche betreten. Das tun wir im Moment nicht. Es sei denn, es gibt so ähnlich wie bei den Desinfektionsmitteln auch Weihwasserspender. Die Firmen sind ja da sehr kreativ. Dann, beim Friedensgruß. Wir reichen uns nicht die Hand. Aber auch da gibt es ja viele verschiedene Möglichkeiten. Man kann sich auch freundlich zulächeln. Man kann sich zunicken.
Die Gemeinde darf schon singen, aber sie sollte reduziert singen. Es heißt also nicht, mit lauter Stimme alles schmettern, was natürlich wirklich ein schwieriges Unterfangen ist."
Monika Selle, Liturgiebeauftragte des Erzbistums München und Freising
Sie dauert nun schon lang, die Zeit der Unsicherheiten. Familienfeiern finden kaum oder nicht statt, Hochzeiten werden verschoben, Rituale in Frage gestellt. Überlässt die Kirche das Feld den Spinnern und Esoterikern? Müsste sie nicht gerade jetzt durchsetzungsstark und widerstandsfähig sein, den Menschen mit den Ritualen, Sitten und Gebräuchen Halt geben?
"Es wird sicher Menschen geben, die enttäuscht sind von der Kirche, die sagen, die hätten viel mehr tun können, die hätten sich nicht zurückziehen dürfen, die hätten, das erlebe ich in vielen schreiben, die wir so bekommen, zur, um sie zu beantworten. Ja, wieso? Wieso ist die Kirche bereit, sich den staatlichen Direktiven zu unterstellen und so weiter?"
Monika Selle, Liturgiebeauftragte des Erzbistums München und Freising
Vielleicht lässt die Kirche hier eine Chance verstreichen, eine für Anbindung, Verbindung. Miteinander. Denen buchstäblich die Hand reichen, die sich ins Abseits gestellt sehen; denen, die sich nicht mehr wahrgenommen, nicht mehr vorhanden fühlen?
Schon unsere Sprache verrät ja, wie wichtig die Hände für unsere Kommunikation sind: Hand-eln - Abhandlung - Handlich - etwas hat Hand und Fuss - berühren, begreifen, behandeln, einfühlsam, Handhabe, etwas ist unantastbar. Um nachzudenken, muss ich verstehen, um zu verstehen, begreifen, um es zu begreifen, berühren.
"Wenn sie einen Gegenstand zum ersten Mal sehen, sehen sie nur Form und Farbe. Mehr kann das Auge nicht erkennen. Zum Beispiel ein Ei: Erst wenn sie es in die Hand nehmen verstehen sie: ist es schwer oder leicht, weich oder rauh? Und wenn sie es schütteln: ist es flüssig oder fest?"
Norbert Nemetz, Handwerksmeister, Gründer des Museums Kulturgeschichte der Hand
Unübersehbar: Das Thema Hand in der Kunst. Der Künstler Martin Bürck hat 1982 mit simplen Handstudien begonnen. Daraus wurde ein ganzer Zyklus mit rund 60 Arbeiten. Eine Skulptur nennt sich "Die Brücke": Und: da ist er wieder: Der Handschlag: Zwei Hände greifen ineinander, bilden, fest verschränkt, eine Brücke. Und wenn sich die Finger lösen und Raum und Platz dazwischen ist, dann nennt Martin Bürck seine Arbeit "Das Vertrauen".
"Ich war nach den ersten paar erstaunt, wie sich sofort ganz verschiedene Charaktere ausdrücken. Dann ist das Ganze natürlich explodiert. Als ich gemerkt habe, jede Gebärde steht eigentlich für einen ganzen Menschen, für ein ganzes Leben, eine menschliche Haltung, für die ganze Persönlichkeit. Und so kam eins zum anderen.
Der ganze Zyklus läuft am Ende eigentlich darauf hinaus, nach allen möglichen Schleifen und Seitenwegen, dass wir als Menschen die Möglichkeit haben, zu entscheiden, ob wir unsere Hände zur Zerstörung einsetzen oder zur Bewahrung der Schöpfung.
Die Hände sind das gestaltende Werkzeug von uns Menschen, das ausführende Organ unserer Gesinnung, sie formen, sie arbeiten, sie ruhen, sie beschützen, sie zerstören, sie vernichten und helfen. Sie sind ein Spiegel unserer Gesinnung. Wer sind wir eigentlich? Wie sind wir? Woher kommen wir? Und wohin gehen wir."
Martin Bürck, Künstler
Wir können keine Hände mehr drücken, Umarmungen sind abzuwägen, die Hände manchmal nutzlos nach vorn gereckt, müssen wir auch mal eine Zurückweisung hinnehmen. Berühren auch sonst unerwünscht. Fühlt sich da die Welt nicht an wie ein großes Museum. Nur schauen, nix anfassen. Kommen wir uns da etwa ab-handen?
"Wir haben in der Wissenschaft keine endgültigen Wahrheiten. Alles Wissen ist vorläufig. Wir haben auch in der Gesellschaft keine endgültigen Wahrheiten. Alles ist vorläufig und genau mit dem Prinzip müsse wir leben. Und das heißt, wir müssen permanent mit Aufmerksamkeit durch die Welt gehen. Regeln in Frage stellen. Aber durchaus auch dann, wenn es heißt, die gelten im Moment, uns auch dranrenrenhalten."
Prof. Dieter Frey, Sozial- und Wirtschafts-Psychologe LMU München
Der Handschlag kommt sicher wieder. Das Beharrungsvermögen der Menschheit ist nicht zu unterschätzen. Bussi, Bussi und Hand drauf sind doch einzementiert ins politische Gedächtnis: 1979 Breschnew und Honecker, der intensive, beinahe intime Bruderkuss zu 30 Jahren DDR: 1984 Kohl und Mitterand. Der französische Staatspräsident und der deutsche Kanzler stehen an einem deutschen Soldatengrab und halten einander die Hand. Starke Bilder, starke Gesten. Durch nichts zu ersetzen.