Kommentar zur Flüchtlingssituation Europa verrät seine Ideale
In Griechenland zeigt sich die EU derzeit als Festung, die Grenze wird mit Stacheldraht und Tränengas gegen Flüchtlinge gesichert. Und wer es doch aus der Türkei hinüberschafft, landet in einem der völlig überfüllten Insel-Lager. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen hat Griechenland kürzlich dafür gedankt, dass es gerade das europäische Schutzschild sei. Ein Verrat an den eigenen Idealen, kommentiert Ingo Lierheimer.
Aus der größten Katastrophe der Geschichte, aus den Verbrechen des Nationalsozialismus, aus der geplanten Vernichtung des jüdischen Volkes ist Europa hervorgegangen. Nicht direkt, nicht sofort, sondern Schritt für Schritt. Als Wirtschafts- und Wertegemeinschaft, basierend auf humanistischen Idealen: Frieden, Freiheit und Fürsorge. Fürsorge für den Schutz der menschlichen Würde. In Artikel 1 der Grundrechtecharta der Europäischen Union heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“ Im Moment ist dies ein Satz, der nur auf dem Papier steht.
Grenzschließung mit Gewalt
Die EU scheitert am selbst gesetzten Maßstab. Europa verrät seine Ideale seit Jahren. Jetzt ist es wieder offensichtlich geworden. Weil der erkaufte so genannte Flüchtlingsdeal mit der Türkei von dieser nicht mehr beachtet wird. Weil Menschen von Europa zurecht Schutz erwarten vor Verfolgung, Vergewaltigung, Vernichtung. Und Europa nichts Besseres einfällt, als Griechenland dabei zu unterstützen, seine Grenzen und damit die der EU dicht zu machen. Mit Gewalt.
Der Aufschrei bleibt aus
Es ist kein Aufschrei der Politik zu hören, dass Griechenland das Asylrecht einfach aussetzt. Dass rechte Schläger an der griechisch-türkischen Grenze Flüchtlinge verprügeln und verjagen. Auch Rechtsextreme aus Deutschland mischen dort mit. Nein, es ist kein Aufschrei zu hören. So wie er jahrelang nicht zu hören war, obwohl alle wissen, dass in Griechenland das Asylsystem diesen Namen nicht verdient. Nicht nur, dass es dort zu wenige Unterkünfte gibt, sondern auch zu wenige Nahrungsmittel und kaum eine medizinische Versorgung.
Noch immer keine gemeinsame Asylpolitik
Jahre haben nicht genügt, um zu einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik zu gelangen. Polen, Ungarn, Tschechien, die Slowakei – diese Staaten weigern sich einfach, ihnen zugeteilte Flüchtlinge aufzunehmen. Die Gemeinschaft findet gegen diese Haltung keine Handhabe und versteckt sich sogar dahinter: Aus Angst davor, dass Rechtspopulisten durch einen Flüchtlingszustrom weiteren Zuspruch bekommen, übernehmen Politiker in ganz Europa deren Geschäft. Und sagen wie der Unionspolitiker Friedrich Merz: „Wir können euch hier nicht aufnehmen“. Natürlich können wir. Natürlich kann Europa, die wohlhabendste Region der Welt mit knapp 500 Millionen Einwohnern, Flüchtlinge aufnehmen. Und zwar viel mehr als etwa 1500 Kinder und Jugendliche, über die gerade diskutiert wird. Die EU kann nicht nur, sie muss. Sie hat sich dazu in ihrer Charta verpflichtet. Schafft sie dies nicht, ist sie als Wertegemeinschaft gescheitert.