Bayern 2

     

"Unsere anarchistischen Herzen" Von Verlorenheit und Freundschaft als Anker

Nie wäre für sie etwas anderes in Frage gekommen als Schreiben, erzählt die junge Autorin Lisa Krusche. 2019 gehörte sie beim "Open Mike" zu den Finalistinnen und ein Jahr darauf gewann sie beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt den Deutschlandfunk-Preis. Ihr Debüt "Unsere anarchistischen Herzen" gehört zu den 12 Romanen, die beim ARD-Radiofestival vorgestellt werden.

Von: Eva Demmelhuber

Stand: 20.07.2021

Lisa Krusche | Bild: picture alliance/dpa | Julian Stratenschulte

Viele Lesungen fielen in diesem Jahr wegen der Pandemie aus, junge Autorinnen und Autoren hatten wenig Gelegenheit ihre Romane vorzustellen. Ein Dutzend neu erschienener Bücher finden nun beim ARD-Radiofestival ein Forum, mit dabei auch die 1990 in Hildesheim geborene Lisa Krusche. 2020 wurde sie von Juror Klaus Kastberger zum Bachmann-Wettbewerb eingeladen und gewann mit ihrem Text "Für bestimmte Welten kämpfen und gegen andere" den Deutschlandfunk-Preis. In ihrem im Juni bei S. Fischer erschienenen Debütroman erzählt sie wieder von zwei starken Frauen, die um ihren Platz in der Welt kämpfen: Charles und Gwen.

ARD Radiofestival

Zwölf Wochen lang präsentieren die ARD-Kulturwellen Musik, Kabarett, druckfrische Romane und hintergründige Gespräche. Täglich von 20 bis 24 Uhr erwartet Sie im Livestream ein vielfältiges Angebot mit Konzert-Highlights, Opern, Lesungen, Kabarett und Jazz. Außerhalb dieser Zeit gibt es das gewohnte Programm von Bayern 2.

Charles muss mit ihren ausgeflippten Eltern, ihrem kiffenden Ego-Künstler-Vater und ihrer esoterischen Mutter von der Großstadt Berlin in eine Hippie-Kommune in die Nähe von der "Mittelstadt" Hildesheim ziehen. An einem Kiosk trifft sie eines Tages auf Gwen, die versucht, sich aus ihrem neureichen, gefühlskalten Elternhaus zu befreien, loszusagen von diesem sinnlosen Dasein. Sie ritzt sich, prügelt sich mit Männern, schließt sich einer Gang an, beklaut ältere Semester beim Sex und spendet das Geld für Charity-Zwecke. Große Gefühle zweier pubertierender Frauen. Und klar: Die Freundschaft der beiden erzeugt "tektonische verschiebungen im eigenen herzen", wie es Gwen beschreibt. Sie wollen eine eigene Familie gründen, ohne Kinder, Mann und Frau, eine ganz neue Form des Zusammenlebens. Humorvoll, tieftraurig und brutal erzählen beide Frauen aus der Ich-Perspektive von ihrer Suche nach einem Platz in dieser gefühlsarmen Welt, in einem wilden Sprachgemisch, voller Poesie und Socialmedia-Slang.

Autorin Lisa Krusche

"In meinem Roman geht es ein ganz viel um die Gegenwart, vielleicht auch um so ein Gefühl großer Verlorenheit, das mit der Gegenwart und den gegenwärtigen Herausforderungen zusammenhängt, und wie Freundschaft einen Gegenort schafft oder einen Anker sein kann", erzählt Lisa Krusche in ihrem Gespräch mit Cornelia Zetzsche. Und Schreiben, sagt die 31-jährige Autorin, war eine frühe Entscheidung, "und dann habe ich verhältnismäßig trotzig und vielleicht auch ein bisschen wahnsinnig daran festgehalten. Es ist einfach das, was ich machen möchte, für mich ist einfach nichts Anderes in Frage gekommen. Und jetzt habe ich eben das große Glück und Privileg, dass ich das auch zu meinem Beruf machen konnte. Also Schreiben ist für mich einfach die Art und Weise, wie ich der Welt begegne, wie ich in Resonanz zur Welt trete, es ist einfach eine innere Notwendigkeit."

Und so beginnt "Unsere anarchistischen Herzen"

CHARLES
Papa rennt nackt durch Charlottenburg.
"Schneller", sage ich zu Achim, dem Uberfahrer, "wir müssen ihn vor der Polizei erwischen. Papa war mal Autonomer, sein Verhältnis zu der Polizei ist nicht das Beste."
Achim, eine Hand am Steuer, die andere schnipst die eben gerauchte Kippe aus dem Fenster, beschleunigt.
"Was ist er jetzt?", fragt er.
"Ein armer Irrer", sage ich und deute auf Papas nackten Hintern am Ende der Straße. Hin und wieder verschwindet er hinter Menschen, Bäumen, Mülleimern, Autos, um dann wieder aufzutauchen, strahlend weiß und unendlich peinlich.
"Ne Verfolgungsjagd hatte ich noch nie", sagt Achim.
"Ist das nicht die Königsdisziplin des Uberfahrens?"
"Das sind die Überlandfahrten. Da kommt richtig Geld in die Taschen."
"Ach Achim, es geht doch nicht immer nur ums Geld."
"Na hör mal. Man muss doch von irgendetwas leben."
"Klar", sage ich.
"Was hat’n dein Vater da eigentlich in der Hand?"
"Einen Kopf", sage ich.
"Ah", sagt Achim, obwohl er es natürlich nicht versteht. Wie auch. Er kann ja nicht wissen, dass der Kopf, den Papa da gerade in der Hand hält, der seines ehemaligen Galeristen ist.
"Der ist nicht echt", sage ich, "das ist eine Nachbildung. Papa ist ein Irrer, kein Mörder. Noch nicht."

Eine Produktion des WDR im Rahmen des ARD Radiofestivals.
Lesung: Lisa Hrdina und Marina Frenk
Regie: Petra Feldhoff
Im Gespräch: Lisa Krusche
Moderation: Cornelia Zetzsche