radioTexte am Dienstag Lion Feuchtwanger: Die Tagebücher (1/2)
Dienstag, 04.12.2018
21:05
bis 22:00 Uhr
- Als Podcast verfügbar
BAYERN 2
Notate zwischen Weltgeschichte und Rachenkatarrh - Lion Feuchtwanger war einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftsteller. Seine Tagebücher führen in einem atemlosen Telegrammstil durch das 20. Jahrhundert.
Gelesen von Jens Wawrczeck
"St. Anton, 13. März 1933. Eilbrief der Sernau aus Zürich, mein Haus sei von S.A.-Truppen besetzt, das Auto und die Schreibmaschine beschlagnahmt. Die Akten und Manuskripte herausgerissen und fortgeschleppt. Ich nehme es sehr ruhig auf, auch Marta. Spazierengegangen. Ganz nett geflirtet ... Es wird sehr spät."
Lion Feuchtwanger, Schriftsteller und Stoiker. Gerade ist er von einer längeren USA-Reise statt nach Deutschland lieber erst mal nach Österreich gefahren, denn inzwischen ist Hitler Reichskanzler. In St. Anton verfolgt er mit seiner Frau Marta die Nachrichten aus Deutschland. Die beiden können nicht wissen, dass sie nie wieder zurückgehen werden. Anderthalb Wochen später heißt es lakonisch aus der Schweiz: "Wengen, 24. März. Eine neue Schreibmaschine gekauft. Neues Leben. ... Ziemlich umständlich und teuer nach Wengen gefahren ... Der Gasthof ungeheuer primitiv, Marta nett und streitsüchtig, die Landschaft herrlich."
Feuchtwangers tägliche Notate waren verschlüsselt und nicht zur Veröffentlichung bestimmt, Tagebuchschreiben für die Nachwelt hat er sogar ausdrücklich kritisiert. Dennoch schrieb er sich Fakten auf, die ihm wichtig waren, urteilte unverstellt und führte über sein umfangreiches Liebesleben genau Buch. Und so lagerten die Tagebücher, soweit sie nicht verschollen sind, im Feuchtwanger-Nachlass in Los Angeles und standen lange nur einzelnen Wissenschaftlern unter strengen Auflagen zur Verfügung. Der Aufbau Verlag hat sie nun, 60 Jahre nach Feuchtwangers Tod, in einer kommentierten Ausgabe zugänglich gemacht, herausgegeben von Nele Holdack, Marje Schütze-Coburn und Michaela Ullmann. Und aus dem täglichen Telegrammstil wird ein beeindruckender Blick auf das letzte Jahrhundert und einen seiner bestvernetzen Schriftsteller. In den radioTexten am Dienstag liest Jens Wawrczeck Auszüge aus den entscheidenen Jahren: 1933 mit dem Beginn des Exils, die umstrittene Moskau-Reise 1937, die Internierung in Frankreich als feindlicher Ausländer 1940 und schließlich die Vorbereitungen der Flucht aus Europa. Regie: Irene Schuck. Die Lesung erscheint auch als Hörbuch im Audio-Verlag.
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